In Italien sei nicht nur eine Brücke eingestürzt, sondern die gesamte politische Kultur, heißt es im Morning Briefing des Handelsblatts. Warum? Weil der italienische Innenminister Matteo Salvini, der böse rechte Populist, die fehlende Wartung von Autobahnen, Schulen oder Eisenbahnstrecken in seinem Land ansprach und diesen Zustand auch mit der Sparpolitik Europas in Verbindung brachte. Damit lenke Salvini davon ab, so Autor Hans-Jürgen Jakobs, dass die jeweiligen italienischen Regierungen die marode Infrastruktur des Landes selbst zu verantworten hätten.
Das stimmt ja grundsätzlich, aber warum sollte es falsch sein, was Salvini behauptet?
Ist es etwa nicht so, dass ausgeglichene Haushalte und ein faktisches Neuverschuldungsverbot mittlerweile zu einem europäischen Fetisch geworden sind? Ist es etwa nicht so, dass Salvini überhaupt nur Minister werden konnte, weil Vorgängerregierungen die restriktiven europäischen Stabilitätskriterien einzuhalten versuchten und damit die Wähler vergraulten? Nein, eine perfide Stimmungsmache und politische Propaganda betreibe Salvini, meint auch Handelsblatt-Autorin Regina Krieger, wenn sie diesen Satz von Salvini zweimal liest:
„Außerdem sage ich als Minister und als italienischer Bürger, dass viele Schulen, Krankenhäuser, Eisenbahnstrecken, Flüsse und Autobahnen gewartet und instandgehalten werden müssen, doch oft sagt man uns, dass wir kein Geld ausgeben dürfen, weil es Einschränkungen von Seiten Europas gibt, das Defizit, das BIP, die Verschuldung und der Spread (der Risikoaufschlag für italienische Staatspapiere) – ich sage, dass beim nächsten Haushalt die Sicherheit der Italiener im Mittelpunkt stehen muss und das Recht auf Leben, Gesundheit und Arbeit, und dass dann erst die Einschränkungen der EU kommen.“
Jetzt lesen Sie doch bitte den Satz auch zweimal und fragen sich, wo denn hier perfide Stimmungsmache zu finden ist. Salvini kündigt an, mehr Geld ausgeben zu wollen, um offenbar das nachzuholen, was Vorgängerregierungen seiner Meinung nach und auch nach Meinung des Handelsblatts unterlassen haben. Doch wie er das macht, passt den deutschen Leitartiklern wegen der aufgeworfenen Schuldfrage nicht. Dabei stellen auch sie fest, dass die Infrastruktur marode ist, die notwendigen Investitionen also fehlten. Doch was fordern jetzt die Handelsblatt-Kommentatoren? Mehr Investitionen? Eine Lockerung des Neuverschuldungsverbots, damit die „Populisten Koalition“ Infrastrukturprojekte in Angriff nehmen kann? Natürlich nicht. Über die Regeln gibt es keine Diskussion, die haben die anderen stets einzuhalten.
Sanierungsstau in Deutschland
Eine marode Infrastruktur gibt es auch im Zuständigkeitsbereich des Musterschülers. Hier heißt das ganze euphemistisch „Sanierungsstau“, um zu suggerieren, dass sich dieser zeitnah schon irgendwie auflösen ließe, wie ein Verkehrsstau auf der Autobahn. Doch schaut man sich beispielsweise den Zustand der Brücken an, gilt die Formel: „Die Brücken verfallen schneller, als sie wieder instand gesetzt werden“. Von einer Gefahr für Leib und Leben möchte trotzdem keiner sprechen, vermutlich weil das böse populistisch ist, bis auch hierzulande das erste Bauwerk in sich zusammenbricht.
Baufällig sind auch viele Schulen, in denen die Ingenieure von morgen zunächst das Einmaleins lernen sollen. Auf rund 48 Milliarden Euro hat die Förderbank KfW den „Investitionsstau“ in diesem Bereich ermittelt. Dieser Berg lasse sich, so der Bericht, kaum abtragen. Ist die KfW jetzt populistisch oder derjenige, der Schuldenbremsen sowie schwarze/rote Nullen ablehnt? Es gibt keine Bereitschaft zur rationalen Diskussion. Daher werden lieber Feindbilder wie der böse Populist erschaffen. Das ist leichter. Denn mit Feinden diskutiert man nicht. Auf diese Weise werden aber keine Krisen gelöst, sondern Probleme in steter wie unverantwortlicher Regelmäßigkeit verschoben.
Umdenken notwendig
Notwendig ist ein Umdenken und die Einsicht, dass die europäischen Verträge, die sich mit Stabilitätskriterien beschäftigen, im Grundsatz falsch sind. Diejenigen, die auf die Einhaltung der Verträge pochen, fragen in der Regel aber nie danach, ob es stimmt, was in den Verträgen steht. Lieber lassen sie die Infrastruktur verlottern oder suchen nach alternativen Kürzungsmöglichkeiten, um den ausgeglichenen Haushalt zu feiern. Der Lehrmeister Deutschland verlangt die Einhaltung der Regeln. Maastricht ist heilig, wobei ganz stimmt das ja nicht. Die falschen Regeln haben immer nur für die anderen zu gelten, nie für einen selbst. So ist es zumindest beim Exportüberschuss.
Da gibt es die Regel, dass ein Leistungsbilanzüberschuss von 6 Prozent stabilitätsgefährdend ist und zwar genauso stabilitätsgefährdend wie auf der anderen Seite ein entsprechendes Leistungsbilanzdefizit von vier Prozent. Deutschland hat also schon innerhalb der falschen Regeln einen Vorteil zugesprochen bekommen. Nun liegt der Exportüberschuss aber immer noch bei 7,5 Prozent. Doch die deutsche Seite sieht darin weiterhin kein Problem, da man angeblich keinen Einfluss darauf habe, was umgekehrt für die Defizitländer freilich nicht gilt. Ihnen wird ständig ein Anpassungsprogramm empfohlen oder auferlegt. Auf diese Ungleichbehandlung hat der böse Populist Salvini eigentlich nur hingewiesen.
AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.