Seit dem Wochenende laufen die Trailer zum Projekt #aufstehen. Offizieller Start der linken Sammlungsbewegung ist der 4. September. Doch bereits die Vorschau sorgt für reichlich Wirbel, um nicht zu sagen, Bewegung. Die schnellste und zugleich schärfste Kritik an dem Vorhaben kommt, wie zu erwarten, aus den eigenen Reihen. Vor allem Vertreter von Linken, SPD und Grünen äußern sich gefragt oder ungefragt ablehnend und merken dabei nicht, wie sie denen in die Hände spielen, die bloß am neoliberalen Weiter so interessiert sind.
Am tollsten für eine Gegenkampagne sind ja immer noch die Kronzeugen. So war es in Großbritannien und so wird es vermutlich auch in Deutschland sein. Die Tatsache, dass sich gegen #aufstehen bereits der Widerstand formiert, zeigt aber, dass die Sammlungsbewegung eine gute Sache werden könnte. Doch viel wichtiger als das, bleibt die Beobachtung des Alltags, in dem der neoliberale Zeitgeist und dessen zerstörerisches Gift schon gar nicht mehr erkannt, sondern einfach hingenommen werden.
Beispiel Deutsche Post
Das Unternehmen hat in dieser Woche neue Zahlen vorgelegt. Sinkende Erträge im Paketgeschäft, lautete eine Schlagzeile. Wie verschoben oder wahlweise akzeptiert die Perspektive inzwischen schon ist, zeigt unter anderem diese Formulierung in dem Bericht des Manager Magazins.
Getrieben durch den rasant wachsenden Online-Handel war die Deutsche Post im Paket-Geschäft rasch gewachsen – der Konzern hatte aber die Kosten aus den Augen verloren. Erst im Juni hatten die Bonner deshalb ihre Jahresprognose um fast ein Viertel auf rund 3,2 Milliarden Euro zusammenstreichen müssen.
Da steht, der Konzern habe die Kosten aus den Augen verloren. Das ist eine beliebte Floskel von überbezahlten Analysten und Börsenheinis, die die marktkonforme Demokratie längst verinnerlicht haben. Denn mit der Realität hat dieser Satz ja eigentlich nichts zu tun. Die Kosten hat auch so ein Unternehmen wie die Deutsche Post ständig im Blick. Nicht ohne Grund gibt es seit rund zwei Jahren 46 regionale Tochtergesellschaften mit Namen Delivery, in der rund zehntausend Mitarbeiter zu deutlichen schlechteren Bedingungen (regional unterschiedliche Tarifverträge im Bereich Logistik/Spedition) beschäftigt sind.
Das reicht nur nicht, wie die Zahlen offenbar zeigen. Da es immer noch schätzungsweise über 7500 Paketzusteller gibt, die unter den bundeseinheitlichen Haustarifvertrag der Post fallen, ist das Unternehmen insgesamt betrachtet weniger profitabel, als Mitbewerber, die das Erbe eines ehemals öffentlichen Arbeitgebers (Bundespost) nicht mit sich herumtragen müssen. Die können alle ihre Mitarbeiter von Anfang an schlecht bezahlen. Den absurden Wettbewerb, bei dem es einfach nur um die verlässliche Zustellung von Briefen und Paketen geht, kann nur der gewinnen, der die miesesten Arbeitsbedingungen und Löhne bietet.
Da helfen auch keine Innovationen wie der Streetscooter. Die Aufgabe der Brief- und Paketzustellung ist dem Wesen nach unteilbar und eigentlich hoheitliche Aufgabe. Doch ein „Staatsmonopol“ ist schlecht, freier Wettbewerb in globaler Dimension dagegen nicht (die mächtigen und für einige wenige profitablen Monopole dort blenden wir gerne aus), lernt der Schüler heute. Dabei hat es wenig Sinn, wenn ein Unternehmen, das Postdienstleitungen zu erbringen hat, plötzlich auch zum Hersteller von Kleintransportern wird oder wie der anderer „Staatsmonopolist“ Deutsche Bahn sich im Logistikgeschäft zu Land, Wasser und Luft verdingt, während er zunehmend Probleme damit hat, Menschen von einem zum anderen Ort zu bringen.
Deshalb ist es richtig zu sagen: „Aufstehen für ein gerechtes Land“
Der globale Markt ist kein schicksalhaftes Verhängnis, sondern die Folge von politischen Entscheidungen. Die Politik der Großen Koalition benutzt die Globalisierung als Druckmittel, um die Menschen besser gängeln zu können. Denn nach ihrem Weltbild sind Menschen, die Angst um ihre Zukunft haben, die fügsameren Arbeiter und Angestellten.
Quelle: Sahra Wagenknecht und Bernd Stegemann auf NWZ-Online
Beispiel Sozialpolitik
Die SPD hat die Wählerschaft verlassen, nicht die Wählerschaft die SPD, sagt Steve Hudson, der die Sammlungsbewegung #aufstehen in einem Video unterstützt. An Hartz IV wird nicht gerüttelt, machten die SPD-Oberen bereits im letzten Bundestagswahlkampf klar, obwohl sie erkannten, dass nur der Hauch von Einsicht und Korrekturwillen jede Menge Prozentpunkte in den Umfragen bringt. Doch der politische Gegner oder Partner brauchte nur mit Liebesentzug zu drohen, schon stand sie wieder, die im Kern menschenverachtende Linie der angepassten Sozialdemokratie, die mit Formulierungen wie: „Nur wer arbeitet, soll auch essen„, im kollektiven Gedächtnis geblieben ist.
An dieser Haltung hat sich bis heute trotz Erneuerungsbekenntnis kaum etwas geändert. Dabei sind fast drei Viertel der sechs Millionen Bezieher von Arbeitslosengeld II gar nicht erwerbslos, sondern Kinder, Erwerbsunfähige, Alleinerziehende, Aufstocker, die zu wenig verdienen, oder Langzeitarbeitslose mit besonderen Schwierigkeiten. Darauf weist der Paritätische in seinem Jahresgutachten einmal mehr hin. Beinahe 90 Prozent der Bevölkerung sorgten sich um den sozialen Zusammenhalt in Deutschland. Dieser ist allerdings entscheidend für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stabilität.
Doch mehr als ein Fünftel aller Beschäftigten (22,6 Prozent) arbeitet immer noch im Niedriglohnbereich mit einem Stundenlohn von unter 10,50 Euro. Etwa 9,5 Prozent der Bevölkerung sind auf Mindestsicherungsleistungen angewiesen.
Ihre Zahl ist seit 2010 von damals 7,18 Millionen auf heute 7,86 Millionen Menschen angestiegen. Da sind nicht diejenigen mitgezählt, die allgemein von Leistungen der Arbeitslosen- oder Rentenversicherung leben, sondern nur diejenigen, die nicht mehr als die staatliche Grundsicherung – das bloße Minimum – zum Leben haben und damit in Armut leben.
Der Paritätische sieht einen erheblichen Handlungsbedarf, was die Stärkung des sozialen Zusammenhalts anbelangt und fordert deshalb eine offensivere Sozialpolitik. Allerdings werden derlei Impulse aus der Fachwelt gleich wieder konterkariert durch Äußerungen der marktkonformen Kräfte, die den Diskurs um ein vielfaches überstrahlen. Diesmal waren es FDP-Parteichef Lindner und der CDU-Dauertalker Linnemann. Sie formulieren bewusst die Schlagzeile „Sozialstaat außer Kontrolle„, um vom eigentlichen Mangel abzulenken und die Öffentlichkeit auf noch mehr Kürzungen (toll umschrieben mit: „Debatte über die Treffsicherheit sozialer Ausgaben“) einzustimmen.
Ähnlich wie bei den „Rekordsteuereinnahmen“ wird auch die Summe aller Sozialleistungen mit einem „Rekordwert“ von 965,5 Milliarden Euro angegeben. Dabei ist das Niveau gemessen an der kontinuierlich wachsenden Wirtschaftsleistung stets konstant geblieben, der Rekord also kein Rekord, sondern die höheren Ausgaben eine simple Folge der Preissteigerung. Dass FDP und Union nichts von Volkswirtschaft verstehen, ist hinlänglich bekannt, allerdings hält sich hartnäckig das Gerücht, sie täten es doch.
Beispiel Wirklichkeit
Auch dafür ist #aufstehen notwendig. Denn aufstehen bedeutet vielleicht auch mehr Aufklärung über Mythen und Denkfehler. Seit Jahren erzählen die Mehrheiten im Bundestag, Deutschland gehe es gut. Selbst die AfD stimmt in diesen Chor mit ein. In Sachen Sozialpolitik sehen die Rechten nämlich kaum Handlungsbedarf. Die Witzfigur Bernd Höcke ist mit seinem braunen Flügel und dem allzu sehr nach nationalsozialistischem Gedankengut riechenden Programm, mehr Sozialleistungen nur für Deutsche, bereits gescheitert.
Bleibt also der neoliberale Kern übrig, der sich nur im Ton von den anderen Parteien unterscheidet. Sicherlich sind da noch die Flüchtlinge, die ständig Thema sind, doch da haben die anderen Parteien bereits deutlich aufgeholt. Die Menschen bewegt aber etwas anderes. Es sind die sozialen Fragen, nicht Flüchtlinge. Wohnungsmangel und steigende Mieten, Kindererziehung und Pflege und natürlich die Rente sind wichtige Themen, um die sich im Bundestag niemand wirklich kümmert, obwohl die Formulierung „Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“ sogar im Untertitel des Koalitionsvertrages steht.
Zu spüren ist davon leider nichts. Die Regierung streitet sich lieber über eine noch schärfere Asylpolitik und die Medien fragen derweil, warum Herr Sauer ohne Frau Merkel im Urlaub wandern geht. Ein Aufstehen ist daher notwendig, auch um das Land aus einer seltsamen Lethargie zu befreien, die auch ohne sommerliche Wärme und anhaltende Dürre zu beobachten gewesen wäre. Es geht im Grunde um eine Wiederbelebung sozialdemokratischer Politik oder wie es die Protagonisten der Bewegung selbst formulieren:
„Aufbruch aus dem Elfenbeinturm in die Wirklichkeit“
AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.