Gegen Simone Lange sprach angeblich, dass sie unkonkret oder unklar darin geblieben sei, wohin sie die Partei führen wolle. Das Gegenteil ist richtig. Lange machte deutlich, dass es so wie bisher nicht weitergehen könne, sondern eine Abkehr von der Agenda 2010 nötig, innere Sicherheit nur durch soziale Sicherheit unter Aufgabe der Schwarzen Null erreichbar und eine Rückbesinnung auf die Brandtsche Entspannungspolitik für den Frieden in Europa und der Welt unerlässlich sei. Konkreter geht es kaum.
Dagegen floskelte Andrea Nahles herum und äußerte sich sogar stolz darüber, das Rentenniveau auf 48% stabilisiert zu haben. Eine Vision habe sich erfüllt. Ja, die Vision von Altersarmut. Das hatte vorher auch mal Kevin Kühnert erkannt. Er wählte Andrea Nahles aber trotzdem und floskelte hinterher ähnlich nichtssagend herum.
Hinhaltetaktik
Seit Wochen und Monaten redet die SPD einen Erneuerungsprozess herbei, der sich immer mehr als eine Art PR-Gag ohne nennenswerte Ergebnisse entpuppt. Der Trick besteht darin, den Prozess an sich als eben jene Erneuerung zu verkaufen. Kevin Kühnert findet es toll, dass viel geredet werde, an wirklichen Veränderungen hat er nie ein Interesse gehabt. Um über die Zeit zu kommen, werden viele Konferenzen und Diskussionen an der Basis veranstaltet, die jetzt Debattencamps heißen. Ein hipper Hashtag in den sozialen Medien darf auch nicht fehlen. Dabei ändert sich inhaltlich und personell ja nichts, wie der Parteitag in Wiesbaden einmal mehr zeigte.
„Mit diesem Beschluss wollen wir den Startschuss für eine umfangreiche Diskussion in den nächsten zwei Jahren setzen, an deren Ende programmatische Klarheit in den großen Zukunftsfragen steht.“
So steht es im Leitantrag des Parteivorstandes, den man auch mit den Worten, und täglich grüßt das Murmeltier, beschreiben könnte. Die Schlüsselwörter sind Startschuss, Diskussion und Klarheit. Diese Parolen hört man seit der Bundestagswahl ständig. Nun soll es also noch einmal zwei Jahre dauern. Wer hier eine Hinhaltetaktik vermutet, liegt goldrichtig. Erneuerung soll allein dadurch entstehen, dass man ständig darüber spricht. Wenn es dann aber konkret wird, antwortet die Parteiführung entweder mit einer Fortsetzung der bisherigen Politik, siehe Finanzminister Scholz oder ist gelangweilt, siehe Generalsekretär Klingbeil.
Überschaubar war daher auch die Stimmung auf dem Parteitag in Wiesbaden. Weder Simone Lange noch Andrea Nahles vermochten die Delegierten zu begeistern. Ein Signal oder gar ein Gefühl des Aufbruchs war jedenfalls nicht zu vernehmen. Vermutlich, weil alle wissen, wie trostlos es weitergehen wird. Die SPD hat sich längst schon wieder und ohne zu quietschen auf der Regierungsbank eingerichtet. Dort zeigt sie bereits nach wenigen Wochen, dass ihr Anpassung wichtiger ist, als selbst zu gestalten. Der neue Finanzminister Scholz macht so offensiv den Schäuble, dass sich Sozialdemokraten doch eigentlich nur noch wundern können.
Umetikettierung
Der Außenminister Heiko Maas wirft die Reste sozialdemokratischer Entspannungspolitik kurzerhand über Bord und heißt zusammen mit der Kanzlerin völkerrechtswidrige Militärschläge gut. Der neue Arbeitsminister sucht unterdessen sein Heil im Kombilohn. Er will das sozialdemokratische Verarmungsprogramm Hartz IV nicht etwa überwinden, sondern lediglich umbenennen, in der Hoffnung, dass sich allein dadurch die Welt der Betroffenen verbessert. Dabei ist mit dieser Art der Umetikettierung auch schon Vorgängerin Ursula von der Leyen (CDU) gescheitert, als die unter Schwarz-Gelb das Arbeitsministerium leitete und dort verfassungswidrig zusammengerechnete Hartz IV-Sätze korrigieren musste.
Der Grundsatz, so wenig Geld wie möglich, gilt in diesem Ressort allerdings bis heute. Anders verhält sich von der Leyen in ihrer Rolle als Verteidigungsministerin. Im Augenblick ist sie dabei, so viele Milliarden wie noch nie, für die Rüstung zu mobilisieren. Wie verträgt sich das eigentlich mit einem Abrüstungsgedanken, den die SPD in Wiesbaden gerade wieder formuliert hat? „Auch ein leidenschaftliches Eintreten für eine gemeinsame Europa- und Abrüstungspolitik sind dem Frieden weltweit dienlich“, heißt es im Leitantrag.
Bei einem leidenschaftlichen Eintreten wird es vermutlich auch bleiben, wenn man sich die Buchstaben des Koalitionsvertrags in Erinnerung ruft. „Deutschland wird verbindlich (…) dem Zielkorridor der Vereinbarungen in der NATO folgen“ und: „Wir wollen die vereinbarten NATO-Fähigkeitsziele erreichen und Fähigkeitslücken schließen.“ Das es so kommt, wie im Koalitionsvertrag geschrieben steht, hat schließlich auch Andrea Nahles auf dem Parteitag noch einmal bekräftigt. „Vertrag ist Vertrag. Wir wissen, was wir verhandelt haben“, so Nahles. Sie meinte zwar das Europakapitel, doch der Vertrag gilt ja nicht nur in diesem Punkt.
Trotz dieser Fakten, die schon nach wenigen Wochen GroKo erkennbar sind und einem wie auch immer gemeinten Erneuerungsprozess deutlich entgegenstehen, ihn im Grunde sogar total lächerlich erscheinen lassen, verspricht die neue Parteivorsitzende Andrea Nahles dennoch, dass ihr es schon gelingen werde, die Widersprüche aufzulösen. Sie glaubt, die SPD könne einerseits gut regieren und sich andererseits selbst erneuern. Beides wird grandios scheitern. Die Delegierten wissen das, marschieren aber wie eh und je „Seit an Seit“. Dafür hält sich dann eben die Begeisterung verständlicherweise in Grenzen.
APR
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.