Heute haben viele SPD-Mitglieder ihre Unterlagen zum Mitgliedervotum erhalten. Sie sollen abstimmen, ob sie für oder gegen die Bildung einer Großen Koalition sind. Wie man aus übereinstimmenden Reaktionen von Genossen aus den sozialen Netzwerken inzwischen weiß, lag den Unterlagen ein dreiseitiges Anschreiben des Parteivorstandes bei, in dem mehr oder weniger unverhohlen für die Große Koalition geworben wird. Das kann man ja machen, ist nur leider ein offenkundiger Verstoß gegen die jüngste Beschlusslage der Partei.
Auf dem Bonner Sonderparteitag hat der Parteivorstand einen eigenen Leitantrag [PDF] ein- und durchgebracht, in dem es im letzten Absatz heißt:
„Unsere Basis entscheidet. Über die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen wird ein verbindliches Mitgliedervotum eingeholt, an dem alle Mitglieder beteiligt werden. Das haben wir beschlossen, und das zeichnet uns als lebendige Mitglieder-Partei aus. Damit dieser Prozess innerhalb der Partei uns stärkt, ist uns wichtig, dass ein Abstimmungsverfahren angesichts der leidenschaftlichen Debatte in der Partei von besonderer Fairness gekennzeichnet ist. Zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens wird der Parteivorstand sicherstellen, dass im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit, und vor allem auch im Rahmen von Diskussionsveranstaltungen, die diskursive Bandbreite der Debatte abgebildet wird.“
Ich habe die entscheidende Stelle mal markiert. Viele Genossen empfinden es nun zurecht als unfair, wenn der Parteivorstand mit einer dreiseitigen Werbebotschaft für die GroKo in die Abstimmung geht. „Wir als Verhandlungsteam empfehlen Dir aus Überzeugung mit JA zu stimmen!“, heißt es in dem Schreiben. Die Argumente der GroKo-Gegner im Sinne der „Abbildung einer diskursiven Bandbreite der Debatte“ werden in dem Begleittext aber offenbar nicht genannt.
Dass man den GroKo-Gegnern eher wenig Gelegenheit gibt, ihre Positionen gleichberechtigt zu vertreten, ist auch aus den nichtöffentlich stattfindenden Regionalkonferenzen immer wieder zu vernehmen. Zwar werde dort durchaus kontrovers diskutiert, die Podien würden aber mehrheitlich von den Befürwortern einer Großen Koalition bestimmt. Dafür dürfen Fragen formuliert werden, die aber die bekannten unbefriedigenden Antworten liefern. Großes erreicht, mehr war nicht drin, oder so ähnlich. Der Umgang der Parteiführung mit der Basis zeigt, dass es den Funktionären herzlich egal ist, was außerhalb ihres Wahrnehmungshorizonts gedacht oder befürchtet wird.
Das Mitgliedervotum war von Anfang an wie 2013 als reine Show-Veranstaltung konzipiert, um so zu tun, als gebe es eine Wahl. Vielleicht werden nicht 75 Prozent wie beim letzten Mal, aber dennoch eine knappe Mehrheit für die Große Koalition stimmen, eben weil die SPD keinen Querschnitt der Bevölkerung mehr darstellt, sondern vor allem Mitglieder hat, die hauptsächlich durch die Organisation an sich geprägt sind. Die verbliebenen Genossen und daran können auch die vergleichsweise spärlichen Eintritte nicht hinwegtäuschen, sind eben nicht bekannt dafür, ihrer Parteiführung offen die Stirn zu bieten.
Bigotterie
Da wird vielleicht heute etwas mehr als früher Kritik geübt, aber am Ende dann doch wieder die Sprachregelung von oben übernommen und eine offene Diskussionskultur gelobt, die aber nie zu einem anderen Ergebnis führt. Es ist ja der Dilettantismus der Parteiführung selbst, der in letzter Konsequenz das ein oder andere prominente Opfer fordert. Die Basis hat damit eher weniger zu tun. Wenn sie hingegen über ein unwürdiges Postengeschacher an der Spitze jammert, ist das nur noch bigott. Man hätte die verantwortlichen Personen schließlich bei unzähligen Gelegenheiten auch einmal abwählen können, statt sie immer und immer wieder in ihren Ämtern zu bestätigen.
Die kritischen Leute und die, die noch fähig sind, in politischen Zusammenhängen zu denken, sind doch längst gegangen oder allenfalls als Karteileichen nur noch statistisch auffindbar. Diese politisch interessierten Menschen machen einfach nicht mehr mit, weil ihnen die gelenkten Diskussionen im Parteiapparat zuwider sind und weil sie es vermutlich total bescheuert finden, über einen 177 Seiten dicken Koalitionsvertrag abzustimmen, in dem die Diskussion durch Satzkonstruktionen mit „sollen“ und „wollen“ gänzlich zum Erliegen gekommen ist. Daher ist dem Autor Wolfgang J. Koschnick nur zuzustimmen, wenn er zu dem Ergebnis kommt:
„Die Abstimmung ist eine reine Alibiveranstaltung. Die Parteiführung hat im Vorfeld längst die Stimmung unter den Mitgliedern ausgelotet und weiß ziemlich genau, wie das Kasperletheater ausgehen wird. Sie stellt ihre Parteigenossen erpresserisch vor die Alternative: Entweder folgt ihr uns oder der Untergang kommt. Lebendige, gelebte Demokratie geht nun einmal von unten nach oben und nicht in umgekehrt. Von oben nach unten geht nur eine billige Scharade, die dem blöden Parteivolk in Form einer Demokratie-Pantomime vorgegaukelt wird.“
FEB
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.