Verschüttet

Geschrieben von: am 15. Jan 2018 um 12:06

Hans / Pixabay

„Als Sondierung bezeichnet man das Absuchen eines Lawinenkegels mittels Lawinensonden“, steht bei Wikipedia unter dem Stichwort Bergrettung. Und so ein bisschen passt das ja zur gegenwärtigen politischen Lage. Die Grundlagen einer vernünftigen Zusammenarbeit aus Union und SPD liegen unter einer Lawine aus Wortbeiträgen begraben, die davon handeln, dass es kein „Weiter so“ geben dürfe. Und da bleiben sie nach Lage der Dinge auch verschüttet.

Die Kritik, die unmittelbar nach dem „Durchbruch“ und den angeblich „hervorragenden Ergebnissen“ laut geworden ist, zeigt, dass die Suchtrupps auf dem Kegel zwar herumgestochert haben, unter dem sich die Reste des Sozialstaats befinden, sie aber nie ernsthaft ein Interesse an dessen Bergung hatten. Wer in die Sondierungsvereinbarung hineinschaut, wird feststellen, dass viele Dinge fehlen, die auch in möglichen Koalitionsverhandlungen nicht plötzlich so auftauchen werden.

Die Bürgerversicherung ist das prominenteste Beispiel, aber auch Vereinbarungen zum Mindestlohn sucht man vergebens. Dabei hatte Olaf Scholz, der auch Teil des Sondierungsteams war, im letzten Jahr noch eine Erhöhung auf 12 Euro gefordert. Beim Thema Leiharbeit soll eine Evaluierung im Jahr 2019 reichen. Vermutlich, weil eine sozialdemokratische Arbeitsministerin im letzten Jahr bereits ein entsprechendes Gesetz erlassen hatte. Was sich die Politik spart, haben Kabarettsendungen wie Die Anstalt im ZDF längst übernommen. Deren Evaluierung des Leiharbeitsgesetzes hatte zu folgendem Ergebnis geführt.

„Die meisten Leiharbeiter werden von diesem Gesetz gar nicht erfasst und die, die erfasst werden, kommen unter die Räder. Das ist kein Gesetz, sondern ein Auffahrunfall.“

Auf unbestimmte Zeit

Bei Hartz IV sehen die alten und neuen Koalitionäre daher auch keinen Handlungsbedarf. Denn ein Nichtstun reiht sich nahtlos ein in die Logik, Fordern und Gewinne fördern. Selbst das Bundesverfassungsgericht hat wichtigeres zu tun, als sich über das amtliche Kürzen des Existenzminimums Gedanken zu machen. So verschob Karlsruhe im letzten Jahr wegen Überlastung eine Entscheidung zur Sanktionspraxis auf unbestimmte Zeit. Dafür gab es immerhin Klarheit über das dritte Geschlecht.

Unter dem Stichwort „hervorragende Ergebnisse“ wird das Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit verbucht. Das stand allerdings auch schon im letzten Koalitionsvertrag, wurde nur nie umgesetzt, weil sich die Union einfach weigerte. Trotz des klaren Bruchs der Regierungsvereinbarung blieb die SPD dennoch treu an der Seite von CDU und CSU. Dabei hätte es eine Mehrheit auch jenseits der schwarzen Koalitionspartner gegeben. Die ist nun futsch und zwar auf ebenso unbestimmte Zeit.

Die Vereinbarung zum Rückkehrrecht ist bei genauerer Betrachtung eine Mogelpackung, da die Formulierungen zahlreiche Ausnahmen andeuten und das Ganze erst für Betriebe ab 45 Beschäftigte gelten soll. Ein weiteres Thema war die Stabilisierung des Rentenniveaus. Da habe sich die SPD nach eigener Darstellung erfolgreich durchgesetzt. Bis 2025 soll eine Untergrenze bei 48 Prozent gehalten werden. Das bezeichnet der Sozialwissenschaftler Stefan Sell allerdings als einen Fall der Rosstäuscherei. Laut Vorausberechnungen der Bundesregierung sinke das Rentenniveau bis 2024 ohnehin nicht unter 48 Prozent.

Erschreckende Ergebnisse

Eine generelle Stärkung der Gesetzlichen Rentenversicherung und ein Stopp der sinnlosen Subventionierung von privaten Altersvorsorgeprodukten ist hingegen nicht vorgesehen. Offenbar sind den Sondierern auch weiterhin die Bedürfnisse der Versicherungswirtschaft wichtiger, als die soziale Absicherung der Bürger. Für die künftige Entwicklung der Renten haben sich die Sondierer darauf verständigt, ohne zeitliche Vorgabe eine Kommission einzusetzen, wie sie bereits im Wahlprogramm der Union formuliert ist. Zusammengefasst ist das aber alles keine Antwort auf das drängende Thema Altersarmut.

Die Wiederherstellung der Beitragsparität bei der Krankenversicherung ist dagegen sicherlich eine gute Sache, nur muss auch daran erinnert werden, dass es dieselbe Große Koalition gewesen ist, die Zusatzbeiträge erst einführte. Erschreckend bleiben auch die Ergebnisse in der Finanzpolitik. Die Schwarze Null wird weiter angebetet und Steuererhöhungen sind tabu. Von der teilweisen Abschaffung des Solidaritätszuschlages, rund 10 Milliarden Euro, profitieren hingegen wieder nur die höheren Einkommen, die direkt unter der Freigrenze liegen, sagt DIW-Steuerexperte Stefan Bach.

Bach schätzt, dass die Freigrenze bei einem zu versteuernden Jahreseinkommen von rund 55.000 Euro liegen könnte. Hier würde die jährliche Entlastung bis zu 796 Euro betragen, bei 35.000 Euro Einkommen wären es 382 Euro und bei 20.000 Euro noch 135 Euro. Die untere Hälfte der Einkommen jedoch würden von der Abschaffung kaum profitieren, da sie schon heute aufgrund einer Freigrenze überwiegend keinen Soli zahlt. „Das bringt nur was für die obere Mittelschicht und unter Oberschicht“, sagt Bach.

Dass die Infrastruktur insgesamt auf Verschleiß fährt, scheint die Sondierer nicht weiter zu beunruhigen. In der Präambel der Vereinbarung steht: „Die Wirtschaft boomt, noch nie waren so viele Menschen in Arbeit und Beschäftigung.“ Alles super also. Dabei ist diese Analyse immer noch grundfalsch. Weiter unten heißt es aber weiter: „Union und SPD wollen die finanziellen Spielräume, die aufgrund der guten 
wirtschaftlichen Lage bestehen, verantwortlich und sozial ausgewogen für politische 
Gestaltung nutzen. Wir sind uns über das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts ohne 
neue Schulden einig.“

Weiter auf dem Irrweg

Nur wer neue Schulden für unzumutbar hält und stattdessen ausgeglichene Haushalte für das wichtigste Ziel seiner Regierung erklärt, verzichtet auf politische Gestaltung. Denn ein verantwortliches Handeln bestünde gerade darin, den Preisvorteil eines historisch niedrigen Zinsniveaus endlich zu nutzen, um massiv zu investieren und wenigstens einen Teil des gigantischen Investitionsstaus von über 100 Milliarden Euro aufzulösen. Doch neue Schulden bleiben kategorisch ausgeschlossen und damit auch eine Wiederherstellung des Sozialstaates. Die Sondierer halten an ihrem neoliberalen Weltbild fest und wollen weiter auf dem Pfad eines Irrweges wandeln, der zumindest für die SPD in einen tiefen Abgrund führt.

Den Spitzen von SPD und Union ging es offenbar nie darum, ergebnisoffen zu verhandeln. Bei der Union war das schon vorher klar. Deren Vertreter betonten immer wieder, nichts anderes im Sinn zu haben, als eine Fortsetzung der Großen Koalition, während die schlechten Schauspieler der SPD-Führung so taten, als sei neben einer festen Koalition auch eine lockere Zusammenarbeit, eine Minderheitsregierung oder gar ein Scheitern der Verhandlungen möglich. Das Ergebnis zeigt nun aber, dass es keinen Politikwechsel geben wird und noch weniger Sozialdemokratie zum Tragen kommt, als die vier Jahre zuvor.

Damit haben dann auch viele Genossen ein Problem, die sich enttäuscht äußern und lautstark Nachbesserungen fordern. Nur ist das mit einem Spitzenpersonal, das erst vor kurzem wiedergewählt worden ist und mehr oder weniger einstimmig von „hervorragenden Ergebnissen“ spricht, überhaupt nicht möglich. Selbst Leute wie Malu Dreyer, die sich immer wieder skeptisch äußerten, sehen in dem Sondierungsergebnis eine gute Grundlage für weitere Verhandlungen. Doch diese Grundlage gibt es de facto nicht. Sie liegt noch immer tief unter zahlreichen geborstenen Schneebrettern begraben. Aus sozialpolitischer Sicht bleibt es daher weiterhin sehr kalt in Deutschland, sollte das umgesetzt werden, was im Sondierungspapier vereinbart worden ist.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Hartmut Schwarz  Januar 16, 2018

    Ja so ist es, wenn dem Kabarett mehr geglaubt wird als dem Medienmainstream.
    Nun versuchen Sondierer dieses Medium zu kapern; und umgehend werden diese Bergretter von ihren eigenen Helfern, dem Spiegel Online, wirklich einmal ernst genommen, um konsequent eine unsichtbar gemachte Lawine, in Bewegung zu bringen.
    Was uns diese Sondierungsdarsteller so alles vorgaukeln ist schon Atemberaubend.
    Spiegel Online berichtet am 14.01.2018 über geplante Änderungen bei Dublin Regeln.
    Das Dumme ist nur, CSU, CDU und SPD hatten bereits für ( SPON vom 14.01.18 ) diese Änderungen gezeichnet, bzw. – gestimmt, obwohl uns diese Parteien noch am Wochenende eine andere Wahrheit stolz berichtet hatten. Uns darüber in Unkenntnis zu belassen, ist nur ein weiterer Baustein der Politikdarsteller.
    Das Europaparlament bediente sich einer ganz einfachen erzieherisch, fragwürdigen Methode dieser Patentierten? Klammerung.
    Rainer Mausfeld, mit mehr als einer halben Millionen Klicks im Internet, erklärt diese Klammerungsmethode eindrucksvoll.
    Warum versucht uns Politik die Wahrheit immer und immer wieder unsichtbar zu machen?

    Rainer Mausfeld

    https://www.youtube.com/watch?v=Rx5SZrOsb6M

    http://m.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-eu-fluechtlingsplaene-alarmieren-bundesregierung-a-1187500.htm