Ein „Weiter so“ dürfe es nicht mehr geben, hört man auch von denen, die gerade in Berlin über die nächste Große Koalition verhandeln. Doch was zwischenzeitlich an Ergebnissen präsentiert wird, klingt nicht nach Veränderung. Eine höhere Besteuerung von Vermögen, eine Abkehr von der „Schwarzen Null“ oder gar der Schuldenbremse strebt niemand ernsthaft an. Damit wird im Prinzip das fortgesetzt, was schon seit Jahren den politischen Alltag bestimmt.
Dem Publikum werden einmal mehr die abgestandenen neoliberalen Glaubenssätze serviert. Das wird auch an einem weiteren Zwischenergebnis deutlich, wonach die Sondierer die Sozialversicherungsbeiträge unter 40 Prozent halten wollen. Was ist daran nun neu und wo ist eigentlich die Bürgerversicherung geblieben?
Angriffe auf den Sozialstaat
Wer kennt ihn nicht, den alten Verkaufsschlager „Lohnnebenkosten“. Früher wurden sie brutal gesenkt, weil man sich dadurch einen Rückgang der Arbeitslosigkeit versprach. Der heutige Bundespräsident war ein eifriger Verfechter dieser arbeitnehmerfeindlichen Politik. Heute wird euphemistisch von Stabilisierung gefaselt, so als ob steigende Beiträge der Inbegriff großen Unheils wären.
„Die Sozialabgaben wollen wir im Interesse von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bei unter 40 Prozent stabilisieren“
So steht es wohl auf einem Papierschnipsel, der aus den Sondierungsgesprächen zwischen Union und SPD hinaus geflattert ist. Da wird der kalte Kaffee von gestern wieder aufgewärmt. Nur, niedrigere Sozialabgaben wirken weder stabilisierend, noch sind sie im Interesse der Arbeitnehmer. Das Gegenteil ist der Fall. Von Sozialleistungen profitieren in der Regel die Arbeitnehmer. Eine Begrenzung der Abgaben wirkt sich aber unmittelbar auf die Leistungen der Renten-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung aus. Besser werden diese Leistungen durch Beitragsbremsen sicher nicht, auch wenn die FDP aus dem Off irgendetwas von mehr Effizienz und Wettbewerb im System erzählt.
Wer nun die nächste Beitragssatzdiskussion vom Zaun bricht, will nicht nur das politische „Weiter so“, sondern auch die Angriffe auf den Sozialstaat weiter fortsetzen. So einfach ist das. Die Sozialabgaben sind Lohnbestandteile, also Lohn. Mit ihnen werden Gesundheitsleistungen, zum Beispiel in der Pflege, die ja alle unbedingt verbessern wollen, Renten oder das Arbeitslosengeld finanziert. Wer aber mit seiner Politik möglichst geringe Beiträge anstrebt, weil eine Kostengrenze aus irgendwelchen absurden Gründen nicht überschritten werden dürfe, will in Wahrheit einfach nur die Löhne kürzen. Und die SPD macht bei dieser arbeitnehmerfeindlichen Politik, die im Übrigen auch die Jamaika-Sondierer verfolgten, offensichtlich wieder mit.
Nichts gelernt
Dabei müssten es die Sozialdemokraten doch besser wissen. Schließlich haben sie es zu verantworten, dass Menschen mit niedrigem Einkommen nach der rot-grünen Reformpolitik der Nullerjahre noch weniger in der Tasche haben als Menschen mit einem deutlich höheren Einkommen. Die Besserverdiener und Reichen haben profitiert, für Geringverdiener gab es dagegen Niedriglohnsektor und Hartz IV. Genau deshalb loben die Konservativen im Bundestag auch ständig die Agenda 2010. Das Problem ist nur, dass die Leute, die wenig in der Tasche haben, früher mal die SPD gewählt haben und es jetzt verständlicherweise nicht mehr tun. Und die Leute, die hohe Einkommen und Vermögen haben, machen ihr Kreuzchen auch weiterhin beim Original und nicht bei der Kopie.
Drei Bundestagswahlen nacheinander haben doch eindrucksvoll gezeigt, dass ein politisches Angebot, dass sich konsequent gegen die eigenen Wähler richtet und stattdessen nur um Menschen wirbt, die einen ohnehin nicht wählen, gescheitert ist. Und trotzdem macht die SPD einfach weiter wie bisher und erzählt den Menschen, dass sie eine Politik zum Wohle aller und des Landes betreibt. Wahrscheinlich ist das ganze Absicht. Die Funktionärsebene muss ja noch einen Parteitag abhalten und die Mitglieder davon überzeugen, dass die GroKo³ alternativlos ist.
Wo ist die Bürgerversicherung hin?
Schon richtig. Neuwahlen sind keine Option, eine Minderheitsregierung in einem Bundestag mit rechter Mehrheit auch nicht. Doch statt neoliberaler Sätze aus der Mottenkiste hätte man sich schon etwas Fortschrittlicheres aus den Sondierungsrunden gewünscht. Die Bürgerversicherung hätte da etwas bewegen können. Doch wo ist sie geblieben? Den Vorschlag sucht man in den bereits vorab verkündeten Zwischenergebnissen bislang vergebens. Sie wäre allerdings auch nicht zu gebrauchen, wenn das dabei heraus käme, was die SPD mittlerweile unter Bürgerversicherung versteht.
Vorstellbar ist natürlich ein Arbeitskreis, der sich über vier Jahre hinweg damit beschäftigt, wie so etwas konkret aussehen könnte. Als ob es nicht bereits genügend Anschauungsmaterial dazu gebe. Der Kabarettist Volker Pispers hat darüber schon vor Jahren gesprochen, geändert hat sich nichts.
Nehmen wir doch einmal die Pflegeversicherung exemplarisch heraus. Seit Wochen und Monaten wird über Notstände und miserable Bedingungen in der Pflege geklagt. Alle Parteien fordern deshalb eine Abkehr vom sprichwörtlichen „Weiter so“. Von Sofortprogrammen ist die Rede. Es solle mehr Personal eingestellt und eine höhere Bezahlung von Pflegekräften durchgesetzt werden. Das alles kostet aber scheinbar gar kein Geld, da die entsprechenden Beiträge nicht erhoben, sondern „stabil“ unter einer willkürlich festgelegten Marke gehalten werden sollen.
Naheliegend wäre aber, wenn alle Menschen – auch heute privat Versicherte – entsprechend ihrem Einkommen aus Löhnen, Honoraren und Kapitalerträgen ohne Beitragsbemessungsgrenze (aka, Schutzzaun für die Reichen) in eine Bürgerversicherung einzahlten und die Arbeitgeber die Hälfte der Beiträge ihrer Beschäftigten auf Löhne und Gehälter nach dem bewährten Prinzip der Beitragsparität übernehmen. Doch Solidarität ist inzwischen zu einem Fremdwort geworden. Was mittlerweile zählt ist die Sicherheit vor dem Fremden.
„Kulturelle statt soziale Sicherheit“
Jens Spahn, der pausenlos danach gefragt wird, ob er denn bald Kanzler werden wolle, sagt: „Das große Streitfeld der Zukunft ist nicht soziale Sicherheit, sondern kulturelle Sicherheit“. Das wird wohl die neue sprachliche Grundlage der GroKo³ sein, der gemeinsame Ton. Ein ähnliches Vokabular hatte auch der neue SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil im vorwärts verwandt, als er einen kulturellen Wandel forderte und dabei unter anderem seine Verbundenheit mit der Bundeswehr betonte sowie militärische Einsätze für sinnvoll und notwendig erklärte, wie Albrecht Müller auf den NachDenkSeiten analysierte.
Zum kulturellen Wandel, hinter den das Soziale offenbar weit zurücktreten müsse, passt dann auch die „Konservative Wende“ eines Alexander Dobrindt. Der hat sich gern als Prügelknabe vom Dienst zur Verfügung gestellt, um den „Kompass“ vorzugeben, der eine Fortsetzung der neoliberalen Politik absichert und das Ausspielen von gesellschaftlichen Gruppen auch künftig ermöglicht. Das nun alle von einer neuen Zeit und notwendigen Veränderungen sprechen, kann ja nicht darüber hinwegtäuschen, dass es den Sondierern im Kern nur um ein „Weiter so“ geht.
JAN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.