Es ist falsch gewesen, kurz nach 18 Uhr am Wahlabend zu verkünden, als Fraktion geschlossen in die Opposition zu gehen. Es wäre richtig gewesen, kurz nach 18 Uhr den ein oder anderen Rücktritt zu erklären, um den Weg für eine personelle und inhaltliche Erneuerung der SPD früh zu ebnen. Beides hätte in den Gesprächen um eine Regierungsbildung nützlich sein können. Stattdessen blieben alle im Amt und vergeudeten vor allem viel Zeit. Doch es ist noch nicht zu spät.
Es wird ja viel über die Jamaika-Sondierer geredet – auch hier im Blog – die nach wochenlangen Wegbeschreibungen und Winke, Winke Spielchen nichts zustande brachten. Doch was hat die SPD in dieser Zeit getan? Hat sie die versprochene Erneuerung inzwischen auf den Weg bringen und brauchbare Gedanken entwickeln können? Nein. Thomas Oppermann wurde zum neuen jungen weiblichen Gesicht der SPD, mit Lars Klingbeil droht ein Rüstungslobbyist als neuer Generalsekretär und das Duo Schulz & Scholz lieferte bislang eher dürftige Positionspapiere ab.
Die verspielte Chance
Diese werden vermutlich auch die Grundlage von Koalitionsverhandlungen bilden und dann zu dem führen, was viele schon jetzt befürchten. Ein Weiter so. Doch genau das wäre fatal. Noch besteht die Chance, dass sich die Sozialdemokraten wieder auf Sozialdemokratie konzentrieren. Vielleicht haben sie in ihrer acht Stunden langen Sitzung gestern über das 9-Punkte-Papier von Albrecht Müller diskutiert. Es enthält die zentralen programmatischen Grundsätze, die nötig sind, um einen wirklichen Kurswechsel einzuleiten.
Die Sozialdemokraten könnten sich auch noch einmal die Spiegel Reportage über ihren Parteichef zur Hand nehmen und die einzig interessante Stelle aufschlagen, an der vom Meinungsforscher Richard Hilmer die Rede ist, wie er den Genossen im Willy-Brandt-Haus den Schulz-Hype erklärt. Demnach wollten zu diesem Zeitpunkt vor allem die Menschen für Schulz stimmen, die der SPD nach der Agenda 2010 das Vertrauen entzogen hatten. Das heißt, viele ehemalige SPD-Wähler sahen in Schulz und seiner zunächst Agenda kritischen Haltung einen Hoffnungsschimmer.
Doch statt diesen positiven Impuls aufzunehmen und eine Revision der Agenda-Politik ernsthaft ins Auge zu fassen, schlug die SPD einen anderen Weg ein. Eilig versuchten die SPD-Spitzenfunktionäre in Interviews klarzustellen, dass an der Agenda 2010 selbstverständlich nicht gerüttelt werde. Offenbar war man wieder beeindruckt von den marktkonformen Kreisen, die ihr vergiftetes Lob aussprachen und das ein wenig mit gespielter Empörung verbanden, als sie fragten, ob sich denn die Sozialdemokraten für ihre „erfolgreiche Reformpolitik“ schämten.
SPD muss die Alternative sein
Vielleicht ist es ja bequemer und das Verhältnis zu den Mächtigen angenehmer, wenn man sich auf deren simples Spielchen einlässt, statt die richtigen Schlüsse aus der Erkenntnis des Wahlforschers Hilmer zu ziehen. Die SPD hätte vielleicht die letzte Große Koalition zum Zeitpunkt des Schulz-Hypes verlassen und die damals noch mögliche eigene Mehrheit für etwas mehr als nur die Ehe für Alle nutzen können. Das eigene Programm, das mehr soziale Gerechtigkeit versprach, wäre dadurch sicherlich glaubwürdiger gewesen.
Diesen Weg ging die Sozialdemokratie aber nicht und die hoffenden Wähler wandten sich erneut enttäuscht ab. Es ist also bekannt, wie man Wahlen für die Sozialdemokratie gewinnt. Man hätte das vor der Bundestagswahl sogar noch einmal in Großbritannien studieren können, als Jeremy Corbyn mit seinem Programm „For the many, not the few“ über 40 Prozent der Stimmen holte und damit die absolute Mehrheit der Tories brach. Doch die SPD ignorierte den Erfolg von Labour weitestgehend, hielt stattdessen stur am eingeschlagenen Kurs fest und steuerte damit direkt in die absehbare Niederlage.
Nun haben andere im Bundestag die Mehrheit. Zur festen Zusammenarbeit sind Union, FDP und AfD aber noch nicht bereit. Das muss die SPD nutzen, wenn sie tatsächlich ein „Bollwerk der Demokratie“ sein will. Sie muss die Alternative sein und das Thema soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellen, das nach der Wahl urplötzlich in völlige Vergessenheit geriet. Sie muss die Abkehr von der Agenda-Politik endlich einleiten und sich inhaltlich wie personell so aufstellen, dass auch im Falle von Neuwahlen ein politisches Angebot jenseits vom Weiter so nicht nur erkennbar, sondern auch glaubwürdig ist.
NOV
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.