Neulich habe ich auf der Facebookseite meines hiesigen SPD Ortsvereins die Aufforderung gelesen, man solle seine Erststimme bei der Bundestagswahl doch nicht an die kleineren Parteien verschenken. Die hätten schließlich keine Chance zu gewinnen. Grundsätzlich ist dazu zu sagen, dass jede Erststimme verpufft, die nicht beim Sieger landet.
Das heißt: Auch die Stimmen, die für den Zweitplatzierten oder die Zweitplatzierte abgegeben werden, gehen in der Endabrechnung verloren. Denn bei der Erststimme gilt das Mehrheitsprinzip und damit die simple Losung „The winner takes it all“. Dass nun ausgerechnet die SPD für sich in Anspruch nimmt, ein besonderes Anrecht auf die Erststimme zu haben, mag vielleicht mit Blick auf die Vergangenheit als Volkspartei und angesichts der großen Plakate an den Straßenrändern verständlich sein, hat jedoch mit der Realität nichts mehr zu tun. Denn laut jüngster Wahlkreisprognose liegen die Schwarzen in 251 von 299 Wahlkreisen zum Teil deutlich vorn.
Außerdem gelingt es entgegen der Behauptung meines SPD Ortsvereins, auch kleineren Parteien regelmäßig Direktmandate zu erringen. So kann die Linke mit derlei vier rechnen und die Grünen immerhin noch mit einem Direktmandat. Die AfD liegt übrigens in 19 Wahlkreisen derzeit auf dem zweiten Platz, würde also nach SPD-Lesart zu den großen Parteien zählen, die ein besonderes Anrecht auf die Erststimme hätten. Die Linke liegt sogar in 21 Wahlkreisen auf Platz zwei. Die SPD käme laut Prognose auf derzeit 43 Direktmandate, das wären 15 weniger als beim letzten Mal.
So groß, wie die SPD immer noch tut, ist sie also schon lange nicht mehr. Vor allem in Ostdeutschland landen die Sozialdemokraten in nicht wenigen Wahlkreisen bereits auf Platz drei oder vier. Wenn der Ortsverein also schreibt, dass die kleineren Parteien zumindest im Wahlkreis Hannover Land I keine Chance auf den Sieg hätten, dann ist das sicherlich richtig, doch die SPD hat mit ihrer Kandidatin derzeit auch keine wirkliche Chance. Das Mandat gilt für die CDU als „wahrscheinlich“, was in der Statistik zwischen den Kategorien „Vorsprung“ und „sicher“ liegt. Es ist also falsch zu behaupten, dass nur die Erststimme für Grüne, Linke oder FDP (die Liste wird seitens der SPD nicht fortgesetzt) verpuffen würde, weil sie nach derzeitigem Stand auch für die SPD verschenkt wäre.
Darüber hinaus zeugt es nicht gerade von Fairness, den Wählern zu suggerieren, dass das „Verschenken“ von Erststimmen etwas anderes sei, als ein notwendiger Bestandteil des Wahlsystems. Geradezu albern wird es aber, wenn von Knappheiten und Mehrheiten jenseits der Union geredet wird. Denn knappe Ergebnisse sind nun gerade laut Zweitstimmentrend nicht erkennbar, geschweige denn eine Mehrheit jenseits der Union. Es geht im Grunde nur noch darum, für welchen Juniorpartner (es geht auch Mehrzahl) sich Merkel nach dem 24. September entscheidet.
Dennoch: Die Überlegung ist ja nicht falsch, Erst- und Zweitstimmen strategisch einzusetzen. So war es in rot-grünen Regierungszeiten durchaus sinnvoll, wenn die Wähler der Grünen ihre Erststimme bei der SPD platzierten. Gleiches gilt natürlich umgekehrt für Union und FDP, was auch mal in die Hose gehen kann, wie die letzte Landtagswahl in Niedersachsen zeigt. Da „liehen“, man könnte auch verschenken sagen, jede Menge Unionswähler ihre Zweitstimme der FDP, um den Liberalen ein Scheitern an der Fünfprozenthürde zu ersparen, mit dem Ergebnis, dass es zusammen mit der geschwächten Union dann doch nicht für die Mehrheit reichte.
Doch wie sieht es heute auf Bundesebene aus? Für welches Bündnis steht die SPD? Laut ihrem Parteivorsitzenden gilt ja noch der Satz, dass man sich alles offen halte, bis auf die Tatsache, dass er ganz sicher Kanzler werde und Merkel gern als Vizekanzlerin in seine Regierung eintreten könne. Angesichts dieser Slapstick-Nummer erübrigt sich jedwede Strategiedebatte um Erst- und Zweitstimme. Die SPD hat keine realistische Machtperspektive. Ihr bleibt nur die Hoffnung auf eine erneute Regierungsbeteiligung unter Merkel in der Großen Koalition.
Es sei ein intelligenter Gebrauch des Stimmrechts, die Wahlkreiskandidatin mit der Erststimme zu unterstützen, schreibt der Ortsverein abschließend. Na ja, schlauer wäre es wohl, aktiver um die Zweitstimme zu werben, da die Kandidatin über die Landesliste bereits ganz gut abgesichert ist.
- Das Neue Deutschland hat sich in seiner Ausgabe vom 18. September ebenfalls mit den Erststimmen bei der Bundestagswahl beschäftigt und dazu mit Matthias Moehl von election.de gesprochen. Sehr interessant das Ganze.
- PS: Der Wahlkreis Hannover Land I ist nach aktueller Erststimmen-Prognose von election.de wieder etwas offener als zum Zeitpunkt meines Artikels. ;-)
SEP
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.