Zunächst einmal muss man die Aufregung verstehen. Niedersachsen ist neben Bremen das einzige Bundesland, das seine Sommerferien in dieser Woche schon beendet hat. Dabei wird es erst jetzt richtig warm. Aber das ist nicht das Thema. Eine Abgeordnete des Niedersächsischen Landtages wechselt die Fraktion und ändert damit auch die bisherigen Mehrheitsverhältnisse. Vielfach ist nun von Verrat die Rede, aber das ist Quatsch. Wie sich die Abgeordneten organisieren, bleibt ihnen überlassen.
In Parlamenten sitzen keine Parteien. Daran muss man immer wieder erinnern, wenn es solche Vorgänge, wie den in Niedersachsen gibt. Auch in dieser Landesverfassung steht:
„Die Mitglieder des Landtages vertreten das ganze Volk. Sie sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“
Darauf wird immer dann gern hingewiesen, wenn sich Politiker auf den Fraktionszwang oder Koalitionsverträge berufen, um Entscheidungen zu rechtfertigen, die sie sonst nicht mittragen würden. Sie sollten doch mehr ihrem Gewissen folgen, statt der Fraktionsdisziplin.
Nun kann man trefflich darüber streiten, wann ein Mandatsträger sein Gewissen entdeckt. Die Gründe von Frau Twesten sind sicherlich an Erbärmlichkeit kaum zu toppen. Sie ist von ihrer ehemaligen Partei nicht wieder nominiert worden und rächt sich jetzt nach dem Motto: Beleidigte Leberwurst. Mein Gott, es gibt Schlimmeres. Zum Beispiel Leute, die glauben Rot-Grün in Niedersachsen unterscheide sich fundamental von Schwarz-Gelb.
Mehrheit für das „Weiter so“ bleibt
Das Gegenteil ist richtig. Ob nun Weil oder Althusmann regieren, ist Jacke wie Hose. Der eine mag vielleicht die Mehrheit verloren haben, entscheidend ist doch wohl, dass das „Weiter so“ im Amt verbleibt. Schauen Sie doch mal ins Wahlprogramm der Parteien oder in die jeweiligen Regierungsbilanzen. Es sind immer dieselben ungelösten Themen und Skandale, die sich die Lager gegenseitig in die Schuhe schieben.
Glauben Sie mir. Ich höre das jeden Tag. Wir haben dies und das von der Vorgängerregierung geerbt. Oder: Wir mussten erstmal korrigieren, was die anderen falsch gemacht haben. So geht das hin und her, egal welche politische Farbenlehre gerade gilt. Aber alle freuen sich, wenn sie einen Haushalt ohne neue Schulden vorlegen, obwohl die öffentliche Infrastruktur weiterhin verfällt. Schwarze Nullen gibt es halt hüben wie drüben.
Übrigens muss man noch einmal an die Landtagswahl 2013 erinnern, als gerade einmal 59,4 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgaben. Eine eigentlich schon tote FDP schaffte es damals, dank medialer Dauerberieselung um „Leihstimmen“ im Vorfeld, auf knapp unter 10 Prozent. Das Nachsehen hatte der Amtsinhaber David McAllister von der CDU, der trotz guter Umfragewerte nicht genug Zweitstimmen für seine CDU zusammenbekam, um weiter regieren zu können.
Rot-Grün hat den berühmten einen Sitz mehr, weil das extreme Stimmensplitting zwischen CDU und FDP nach hinten losging. Viel wichtiger als das ist aber, dass es über 40 Prozent der Wahlberechtigten egal ist, wer da gerade in Hannover regiert. Diesen Menschen dürfte es auch Schnuppe sein, ob die Landesregierung bis zum Januar weitermacht oder nun zurücktritt. Nur warum sollte sie das tun?
Der Ball liegt bei CDU und FDP
Peinlich ist das Auftreten der CDU, die offenbar ein Misstrauensvotum scheut und behauptet, der Ball liege nun bei Stephan Weil. Die Regierung ist im Amt und das bis zum regulären Ende der Legislaturperiode oder bis die Mitglieder des Landtags einen neuen Ministerpräsidenten wählen. Zu behaupten, eine Regierung sei nun handlungsunfähig, weil ihr die Mehrheit fehle, ist unzulässig, zeigt aber die allgemein übliche Missachtung des Parlaments, das offenbar nur Abnickerbude der Regierung zu sein hat.
Das Parlament fasst aber die Beschlüsse und die Regierung setzt diese um. Das ist die Gewaltenteilung, wie sie eigentlich jedem Demokraten geläufig sein sollte. CDU und FDP oder wer auch immer könnten nun neue Mehrheiten für die sprichwörtliche Gestaltung nutzen und Gesetze beschließen, die von der Landesregierung zu exekutieren sind. Die Handlungsfähigkeit ist solange gegeben, wie es Abgeordnete gibt, die ihren Job erledigen.
Wenn der Landtag den amtierenden Regierungschef Stephan Weil nicht mehr will, müssen dessen Mitglieder halt Althusmann oder wen auch immer wählen. Das ist Demokratie. Jetzt aber so zu tun, als seien nur Neuwahlen die einzige vernünftige Option, ist angesichts des regulären Wahltermins in ein paar Monaten mehr als albern. Die Begründung ist auch falsch. Der Wähler muss nicht neu entscheiden, nur weil eine Abgeordnete auf beleidigte Leberwurst macht.
EDIT: Und Stephan Weil springt über das Stöckchen der CDU und kündigt Neuwahlen an, obwohl er von Intrige spricht. Ach SPD… Jetzt kann man auch super ablenken, von VW und schweren Fehlern bei der Auftragsvergabe etwa…
AUG
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.