Ein Sieg für Nahles, ist nach der Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts zum umstrittenen Tarifeinheitsgesetz zu lesen. Doch stimmt das? Nahles sagte über ihr Gesetz bei der mündlichen Verhandlung im Frühjahr, dass es eine Stärkung der Tarifautonomie ermögliche. Doch genau in diesem Punkt mahnen die Richter nun Nachbesserungen an.
Aus der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts:
Mit heute verkündetem Urteil hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Die Auslegung und Handhabung des Gesetzes muss allerdings der in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützten Tarifautonomie Rechnung tragen; über im Einzelnen noch offene Fragen haben die Fachgerichte zu entscheiden. Unvereinbar ist das Gesetz mit der Verfassung nur insoweit, als Vorkehrungen dagegen fehlen, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber muss insofern Abhilfe schaffen. Bis zu einer Neuregelung darf ein Tarifvertrag im Fall einer Kollision im Betrieb nur verdrängt werden, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat.
Mit anderen Worten. Das Gesetz erfüllt nicht das, was die Ministerin versprochen hat. Gesetz und Urteil verschaffen den Arbeitsgerichten einfach nur mehr Arbeit, wenn es nämlich um die Frage geht, welche Gewerkschaft denn nun die größere im jeweiligen Betrieb ist und was inhaltlich verdrängt werden darf und was nicht. Wo liegt der Nutzen in dem Gesetz als Ganzes, müsste daher die Frage lauten? Die kleineren Gewerkschaften können auch weiterhin Tarifverhandlungen führen und Arbeitskämpfe organisieren. Die ausgehandelten Verbesserungen haben Bestand, auch wenn die größere Gewerkschaft einen anderen Abschluss erzielt. Also kurzum: Das Gesetz ist und bleibt großer GroKo-Murks. Das schreiben die Richter sogar selbst:
Zweck des Gesetzes ist es, Anreize für ein kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungen zu setzen und so Tarifkollisionen zu vermeiden. Damit verfolgt der Gesetzgeber das legitime Ziel, zur Sicherung der strukturellen Voraussetzungen von Tarifverhandlungen das Verhältnis der Gewerkschaften untereinander zu regeln. Die angegriffenen Regelungen sind geeignet, dieses Ziel zu erreichen, auch wenn nicht gewiss ist, dass der gewollte Effekt tatsächlich eintritt.
Interessant ist daher die abweichende Meinung von Richter Paulus und Richterin Baer, die auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts ebenfalls nachzulesen ist. Sie schreiben:
Das Urteil beruht jedoch auf Einschätzungen der sozialen Wirklichkeit, an denen Zweifel bestehen. Weder substantiiert noch sonst belegt worden ist die These, derzeit in Tarifkollision ausgehandelte Löhne würden als ungerecht empfunden, was den Betriebsfrieden störe. Nicht zu übersehen ist auch, dass es an Kooperation zwischen Gewerkschaften aus Gründen fehlt, denen das Urteil zu wenig Bedeutung beimisst. Tarifpluralität ist Ausfluss grundrechtlicher Freiheit und insbesondere von Arbeitgebern oft gewollt, Kollisionen selten und Konflikte Teil spezifischer Entwicklungen. Es gibt seit langem klärende Verbandsverfahren. Nicht übersehen werden kann, dass die angegriffenen Regelungen auf einen einseitigen politischen Kompromiss zurückgehen, und der Gesetzgeber nicht nur scharf sanktioniert, sondern auch strukturell einseitig vorgeht.
Das ist zumindest von den beiden Richtern eine Ohrfeige für Andrea Nahles und die GroKo im Ganzen. Man kann ja den Beschäftigten nicht erst ein Streikrecht einräumen (siehe Bahnprivatisierung) und sich hinterher darüber beschweren, dass es auch in Anspruch genommen wird. Im übrigen stellen die beiden Richter klar, dass die bisherigen Konflikte vergleichsweise selten sind, das vorliegende Gesetz aber dazu tauge, mehr Streit zwischen den Arbeitnehmervertretungen zu provozieren, also das Gegenteil dessen auszulösen, was Nahles und Co. vorgeben, verhindern zu wollen. Das Tarifeinheitsgesetz ist so gesehen überflüssig. Außerdem sei die Tarifautonomie durch die laufende Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nach Auffassung der beiden Richter keinesfalls eingeschränkt worden.
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.