Sollte die türkische Regierung die Todesstrafe einführen, sind die EU-Beitrittsverhandlungen erledigt, heißt es unisono aus Brüssel und Berlin. Ein Witz. Denn in Wirklichkeit sollte die Türkei nie Mitglied der EU werden.
Es ist in gewisser Weise eine Ironie der Geschichte, dass Erdogan, der vor zehn Jahren die Todesstrafe in der Türkei abschaffte, um der EU zu gefallen, sie nun wieder einführen möchte, weil es ihm inzwischen egal ist, was die EU über ihn und sein Land denkt. Der Zug ist abgefahren. Entweder laufen die Deals zu seinen, Erdogans Bedingungen, oder gar nicht mehr. An dieser verfahrenen Lage tragen Brüssel und Berlin alleinige Schuld, weil sie glaubten, mit der Aussicht auf eine privilegierte Partnerschaft, die Türkei auf ewig hinhalten zu können.
Nun hat sich die Lage fundamental geändert. Erdogan sitzt fester denn je im Sattel und besitzt die nötigen Druckmittel – Stichwort Flüchtlinge – , um Berlin wie Brüssel zu Zugeständnissen zu zwingen. Eine vorausschauende Politik hätte das zu verhindern versucht und mit einer reellen EU-Perspektive den Aufstieg eines neuen Despoten vielleicht stoppen können. Stattdessen durfte es unter keinen Umständen den Beitritt eines Landes mit rund 79 Millionen Einwohnern geben, die in der Mehrheit auch noch Muslime sind.
Die Religion allein ist der Grund für den verwehrten Zutritt zum exklusiven EU-Club des Abendlandes, in dem neuerdings auch schon mal Jagd auf Flüchtlinge gemacht werden darf. Sich jetzt hinzustellen und so zu tun, als hänge Wohl und Wehe eines EU-Beitritts von der Einführung der Todesstrafe ab, ist verlogen und dreist zugleich. Denn die Todesstrafe an sich ist kein Hinderungsgrund für Brüssel und Berlin, um mit Staaten, in denen sie zuhauf Anwendung findet, über Freihandelsabkommen zu diskutieren.
Erdogan kennt seine Trümpfe ganz genau. Und er weiß auch, dass die EU es nie ernst mit ihm und seiner Türkei meinte. Die schnellen Zugeständnisse von Merkel im Zuge des Flüchtlingsdramas sind Beweis genug. Mit seinen Gedanken zur Wiedereinführung der Todestrafe führt Erdogan die Europäer schlichtweg vor. Mit seinem Verhalten legt er deren Heuchelei über Werte und Grundrechte offen. Denn wenn nun eine Bundesregierung erklärt, dass die Todesstrafe mit europäischen Prinzipien nicht vereinbar sei, braucht Erdogan sie nur an einen menschenverachtenden Flüchtlingsdeal mit ihm zu erinnern.
AM #Steinmeier zur aktuellen Diskussion in der #Türkei: "Todesstrafe nicht mit europäischen Prinzipien vereinbar."https://t.co/B4GIJEktI4
— Auswärtiges Amt (@AuswaertigesAmt) July 18, 2016
- Edit: Wie belastbar die europäischen Prinzipien sind, wird sich vermutlich auch an dem Umgang mit den türkischen Soldaten zeigen, die mit einem Kampfhubschrauber nach Griechenland geflohen sind und politisches Asyl beantragten. Spiegel Online schreibt:
Die Befürchtung: Sollte Griechenland den Soldaten tatsächlich Asyl gewähren, könnte ein aufgebrachter Präsident Recep Tayyip Erdogan die Flüchtlinge wieder zu Zehntausenden über die Grenze ziehen lassen.
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.