Ein trauriges, aber unterm Strich auch verdientes Ende ereilte die deutsche Fußballnationalmannschaft in Frankreich. Das 0:2 gegen den Gastgeber zeigte zum einen die fehlende offensive Durchschlagskraft der DFB-Elf – wer gewinnen will, braucht halt Tore -, aber noch viel mehr die fehlende Fitness angeschlagener Spieler. Die Verletzung Boatengs ohne Fremdeinwirkung in der 62. Minute spiegelt sinnbildlich das eigentliche Problem der deutschen Mannschaft bei dieser Europameisterschaft wider. Spieler, die permanent über das körperliche Limit gehen.
Jérôme Boateng hat in diesem Jahr schon eine leidvolle Verletzungsgeschichte hinter sich. Im Januar zog er sich im Spiel gegen den HSV einen Muskelbündelriss im Adduktorenbereich des linken Oberschenkels und einen Sehnenriss zu. Mehrere Monate Pause, lautete die Prognose und die EM schien in Gefahr. Doch die vergleichsweise rasche Genesung gelang, begleitet von den Medien, die Boatengs zunehmende Leistungsfähigkeit in Prozent anzugeben wussten. Bereits nach 99 Tagen stand der Bayern-Profi dann für seinen Club gegen Gladbach wieder auf dem Platz.
Bei der EM folgten Probleme in der Wade und am Ende die vermutlich nächste schwere Verletzung, diesmal im rechten Oberschenkel. Mit muskulären Problemen hatte auch Nebenmann Mats Hummels zu Beginn des Turniers zu kämpfen, befand sich noch in der Phase des Auskurierens. Er kam erst beim zweiten Gruppenspiel das erste Mal zum Einsatz und wirkt bis heute fit. Über Bastian Schweinsteiger ist im Grunde genommen schon alles gesagt. Er war die ganze Saison über verletzt, machte kaum Spiele und litt auch bei der EM unter den Folgen eines Innenband-Anrisses im rechten Knie. Außerdem hatte Sami Khedira einen Wadenmuskelriss im Mai zu überstehen.
Immer weiter
Manche bezeichnen die Verletzungshäufigkeit als Seuche, wie beispielsweise der FC Bayern München, der in dieser Saison auf ungewöhnlich viele Profis mit muskulären Problemen verzichten musste. Man kann aber auch die Frage stellen, wie wichtig das Wohl des Patienten eigentlich noch wiegt, wenn der Profi einen möglichst schnellen Therapieerfolg vorweisen und rasch ins Tagesgeschäft zurückkehren soll. Das immer wieder zu hörende Lob an die sogenannte „medizinische Abteilung“ könnte auch dazu dienen, eine für das Geschäft bittere Wahrheit zu verschleiern, nämlich das Verletzungen Zeit zur Heilung benötigen.
Gerade die Muskulatur braucht diese Zeit, um zu regenerieren. Das weiß vor allem DFB Mannschaftsarzt Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, bekannt als Mull. Der hat mit Kollegen darüber ein dickes Buch geschrieben, das inzwischen als Standardwerk gilt. Das Dumme ist nur, dass der Profifußball an der Gesundheit eines Spielers oder der Schwere einer Verletzung immer weniger Interesse hat, sondern nur wissen will, ob der Saisonstart oder der Einsatz im nächsten Pflichtspiel gefährdet ist oder nicht. Denn seit Oli Kahn ist klar, es geht immer nur weiter im Tunnel des Drucks.
Und ab 30 zählen die ehemals jungen Spieler bereits zum alten Eisen. Über Cristiano Ronaldo, der im Januar 31 Jahre alt geworden ist, wird bereits gesagt, dass es seine vermutlich letzte Chance auf einen Europameistertitel ist. Schließlich debütierte der Portugiese mit 18 im Nationalteam und hätte bereits mit 19 bei der EM im eigenen Land die Trophäe im Finale gegen Griechenland gewinnen können. Nun spielt er seine vierte EM und läuft am Sonntag zum insgesamt 21. Mal bei einer Europameisterschaft auf, so oft wie keiner vor ihm.
Ronaldo ist also ein junger Rekordspieler. Dennoch tickt auch für ihn die Uhr des Profifußballs. Wie lange wird er seine Leistung noch abrufen können, lautet eine häufig gestellte Frage. Sie macht deutlich, wie verrückt das System inzwischen schon geworden ist. Denn inzwischen gilt es als normal, dass sich Spieler auf diesem Niveau irgendwann einmal schwerer verletzen und am Ende nicht mehr mithalten können. Dann sind sie verbraucht und müssen auf einen Job als TV-Experte hoffen.
Und wer dennoch oder in der Zwischenzeit weiter mithalten will, greift unter Umständen auch zu anderen Methoden. So hat es auch bei diesem Turnier in Frankreich wieder einen ominösen Fund im Müll gegeben, der Anlass zu weiteren Nachforschungen gibt.
JUL
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.