Das Bundesverfassungsgericht hat heute gleich mehrere Beschwerden gegen die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zu den Akten gelegt. Die einen kritisieren das Urteil der obersten deutschen Richter, andere wiederum begrüßen die Entscheidung. Doch im Kern wird am eigentlichen Problem weiterhin vorbei diskutiert.
Wer ist Schuld an der Lage, die die EZB zwingt, mit unorthodoxen Maßnahmen einzugreifen? Wer sich diese Frage stellt, landet schnell bei der Bundesregierung und einem Finanzminister, der wie kein Zweiter vom eingeschlagenen Kurs der Zentralbank und den niedrigen Zinsen am Anleihemarkt profitiert. Die EZB wiederum versucht auf einem Feld zu agieren und Schlimmeres zu verhindern, auf dem die Fiskalpolitik seit Jahren versagt oder, um es mal diplomatisch auszudrücken, vornehme Zurückhaltung übt.
Denn auch die oft aufgeworfene Feststellung vom geldpolitischen Fehlschlag der EZB, der doch deutlich zu erkennen sei, verstellt den Blick auf jenes Häufchen Finanzminister, die eine politische Lösung der Krise scheuen und durch ihre aktive Unterlassung einen Gipfel nach dem nächsten provozieren, in der Hoffnung, dass es die Zentralbank schon irgendwie richten werde. Und der Höhepunkt ist dann der Vorwurf, die EZB würde ihre Kompetenzen überschreiten.
In Wirklichkeit unterschreiten die Finanzminister die ihrige, während sie gleichzeitig immer neuen Kürzungsorgien im Euroraum das Wort reden.
Ohne das Eingreifen der EZB wäre die Lage heute ungleich schlimmer. Allein die bloße Ankündigung Draghis, im Notfall alles aufzukaufen, was an Staatspapieren zu haben ist, beendete die wilde Spekulation an den Finanzmärkten im Jahr 2012. Und das, ohne auch nur einen Euro tatsächlich in die Hand nehmen zu müssen. Anstatt das Vorgehen der Zentralbank zu würdigen, mit vergleichsweise geringem Aufwand, die zügellosen Finanzmärkte in ihre Schranken verwiesen zu haben, wird ein unglaublicher Vorwurf von denen konstruiert, die die Märkte erst blind entfesselt haben und sich nun nicht einigen können, wie der angerichtete Schaden zu beheben ist.
Dabei ist eines doch offensichtlich geworden. Bei der Konstruktion der EZB haben die Währungshüter es versäumt, über den Fall nachzudenken, der heute eingetreten ist. Was ist, wenn alle sparen oder zur Austerität verpflichtet werden? Was ist, wenn Spekulation, Rezession und Deflation zu einem Dauerzustand werden? Statt sich diesen wichtigen Fragen zu stellen, werden lieber Scheindebatten um Kompetenzen geführt und allen Ernstes so getan, als sei eine Inflationrate nahe Null doch gar nicht so schlimm.
Nicht das Verhalten der EZB sollte Gegenstand von Klagen sein, die jahrelang die Gerichte beschäftigen, sondern ein deutscher Finanzminister, der mit seiner unnachgiebigen Haltung eine vernünftige politische Lösung der Eurokrise immer wieder verhindert. Ein Finanzminister, der Schuldenbremse, Fiskalpakt und schwarze Nullen anbetet, ist ein sehr viel gefährlicheres Problem, als eine Zentralbank, die gegen ihre Kompetenzen verstößt, um den Mangel an politischer Verantwortung ein wenig auszugleichen.
JUN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.