Im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise wird immer wieder behauptet, Angela Merkel hätte im September 2015 die Grenzen geöffnet und Menschen eingeladen, in die Bundesrepublik zu kommen. Beides ist falsch, wie Georg Schramm in der Sendung Große Kleinkunst, anlässlich 50 Jahre Mainzer „unterhaus“ deutlich machte.
- In Europa entlang der Balkan Route gab es keine geschlossenen Grenzen, die man erst hätte öffnen müssen. Wäre es anders herum müssten die Staaten heute nicht über das Ende von Schengen, NATO Stacheldraht und Schießbefehle diskutieren.
- Die Flüchtlinge waren schon längst auf dem Weg und zwar nicht weil Merkel sie eingeladen hätte, sondern weil die Weltgemeinschaft zu geizig war, ausreichend Mittel für die Versorgung der Menschen in den Auffanglagern bereitzustellen, die sich in Nachbarländern Syriens zuhauf befinden.
- Vor dem Sommer 2015 waren auch schon Menschen zu Tausenden auf dem Weg nach Europa. Vor allem über das Mittelmeer und von Staaten aus, die der Westen mit seiner Regime-Change-Politik zuvor destabilisiert hatte.
Die Vorgeschichte der aktuellen Migrationsbewegung hat in Deutschland lange keinen interessiert. Der Aspekt wird eigentlich konsequent ignoriert. So lange die Vertriebenen oder Geflüchteten in den Anrainerstaaten in riesigen Zeltstädten lebten oder im Süden Europas auf Inseln europäischen Boden betraten und die Länder mit Mittelmeerküste allein damit fertig werden mussten, gab es kaum einen Grund, sich öffentlich zu erregen. Die Regeln wurden ja eingehalten.
Erst als die Menschen los marschierten, was wie oben geschildert, nicht nur geschehen musste, sondern bereits im vollen Gange war, kam die Furcht und mit ihr eine Wut, die sich auf einen winzigen Aspekt scheinbarer Mitmenschlichkeit fokussierte. Dabei hat Merkel im Sommer nur nüchtern reagiert, als sie feststellte, dass die Regeln nicht mehr funktionieren konnten.
Das Kanzleramt gab einen an sich unspektakulären Hinweis an das BAMF heraus, in dem stand, die Dublin-Regeln mit Blick auf Bürgerkriegsflüchtlinge nicht mehr anzuwenden. Ein bürokratischer Akt, der eine Selbstverständlichkeit unterstreicht, angesichts des zu erwartenden Zustroms an Menschen, die man mit Grenzen oder Waffen eben nicht hätte aufhalten können. Flüchtlinge haben Rechte, die aber offenbar ein Teil der Politik und der Bevölkerung hierzulande nur als Gnade verstanden wissen wollen, so Schramm treffend.
Und so wurde das Vorgehen der Kanzlerin zum Sündenfall aufgebauscht, auch weil Länder wie Österreich und Ungarn wider besseres Wissen vorgaben, die Flüchtlingsströme im Rahmen bestehender Regeln aufhalten oder kontrollieren zu können. Dankbar nahmen sie die Vorlage Merkels auf, empörten sich künstlich und machten sie kurzerhand zur Auslöserin der ganzen Tragödie. Warum? Um vor den eigenen Leuten gut dazustehen. Doch mal angenommen, den Hinweis an das BAMF hätte es nicht gegeben. Wäre die Bewegung der Menschen tatsächlich zu verhindern gewesen?
Rückblick: Am 7. Mai meldet Bundesinnenminister Thomas de Maizière, dass 450.000 Flüchtlinge in Deutschland erwartet würden. Am 19. August korrigierte er die Zahl auf 800.000. Das war alles vor der kolportierten Einladung Merkels.
Es ist wie Georg Schramm in seiner Rolle als Oberstleutnant Sanftleben sagt: Es werden die falschen Fragen diskutiert. In den Maghreb-Staaten stellen die jungen Menschen die Mehrheit der Bevölkerung. Sie, wie auch die Jugend in Südeuropa haben keine Perspektiven mehr, aus Gründen, die hierzulande kaum jemanden empören. Den einen wird durch internationale Großkonzerne das Land geraubt und den anderen wird klar gemacht, dass eine Troika mehr zu sagen hat als die demokratisch gewählte Regierung.
Bevor sich der besorgte Bürger über die Flüchtlingswelle echauffierte, hat er zu einer Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 60 Prozent im Süden laut geschwiegen. Nein: Er hat sogar Beifall geklatscht, wenn Finanzminister Schäuble oder Kanzlerin Merkel das nächste Sparpaket schnürten, um es der faulen Bevölkerung da unten, die über ihre eigenen Verhältnisse lebte und weiterhin auf unsere Kosten leben wolle, mal ordentlich zu zeigen.
Das entscheidende Datum 2015 war eben nicht der 5. September als Merkel, Orbán und Faymann am Telefon entschieden, die Flüchtlinge per Zug nach Deutschland reisen zu lassen. Das entscheidende Datum war auch nicht der 25. August, als das BAMF über Twitter betätigte: „#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt.“ Das entscheidende Datum war der 13. Juli, als Merkel und Schäuble Griechenland mit dem Grexit ganz offen erpressten.
Dieser Vorgang hatte Signalwirkung und machte allen Europäern unmissverständlich klar, dass die Zukunft Europas weder etwas mit Solidarität, noch mit gleichrangiger Partnerschaft und auch nichts mit Verträgen zu tun hat, sondern einzig und allein auf dem Recht des Stärkeren basiert. „Es ist Payback-Time in Brüssel“, bilanzierte Martin Schulz im November. Und er behält bis heute Recht. Denn Merkel scheitert Woche für Woche daran, eine Verteilung der Flüchtlinge zu organisieren. Das liegt aber nicht an einer falschen Einladung, die zur Überforderung führte, sondern an dem Fehler, an Griechenland unbedingt ein Exempel statuieren zu müssen.
Was bleibt, ist der unverstandene Krieg arm gegen reich. Er verschwindet hinter einer Art der undurchdachten Stimmungsmacherei. So werden diejenigen, die sich von einer Flüchtlingswelle akut bedroht fühlen, es vermutlich auch hinnehmen, wenn beispielsweise die Regelungen zum Mindestlohn wieder aufgeweicht und reichere Bevölkerungsschichten weiterhin geschont werden, wenn notwendige Investitionen in die Infrastruktur unterbleiben und das Anbeten von Schuldenbremse und Schwarzer Null wieder zum alltäglichen Ritual gehört. Heinrich Heine bleibt daher aktuell…
Weltlauf
Hat man viel, so wird man bald
Noch viel mehr dazubekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
Auch das wenige genommen.
Wenn du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse dich begraben –
Denn ein Recht zum Leben, Lump,
Haben nur, die etwas haben.
Heinrich Heine, 1851
FEB
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.