Weltlauf

Geschrieben von: am 16. Feb 2016 um 12:05

Im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise wird immer wieder behauptet, Angela Merkel hätte im September 2015 die Grenzen geöffnet und Menschen eingeladen, in die Bundesrepublik zu kommen. Beides ist falsch, wie Georg Schramm in der Sendung Große Kleinkunst, anlässlich 50 Jahre Mainzer „unterhaus“ deutlich machte.

  1. In Europa entlang der Balkan Route gab es keine geschlossenen Grenzen, die man erst hätte öffnen müssen. Wäre es anders herum müssten die Staaten heute nicht über das Ende von Schengen, NATO Stacheldraht und Schießbefehle diskutieren.
  2. Die Flüchtlinge waren schon längst auf dem Weg und zwar nicht weil Merkel sie eingeladen hätte, sondern weil die Weltgemeinschaft zu geizig war, ausreichend Mittel für die Versorgung der Menschen in den Auffanglagern bereitzustellen, die sich in Nachbarländern Syriens zuhauf befinden.
  3. Vor dem Sommer 2015 waren auch schon Menschen zu Tausenden auf dem Weg nach Europa. Vor allem über das Mittelmeer und von Staaten aus, die der Westen mit seiner Regime-Change-Politik zuvor destabilisiert hatte.

Die Vorgeschichte der aktuellen Migrationsbewegung hat in Deutschland lange keinen interessiert. Der Aspekt wird eigentlich konsequent ignoriert. So lange die Vertriebenen oder Geflüchteten in den Anrainerstaaten in riesigen Zeltstädten lebten oder im Süden Europas auf Inseln europäischen Boden betraten und die Länder mit Mittelmeerküste allein damit fertig werden mussten, gab es kaum einen Grund, sich öffentlich zu erregen. Die Regeln wurden ja eingehalten.

Erst als die Menschen los marschierten, was wie oben geschildert, nicht nur geschehen musste, sondern bereits im vollen Gange war, kam die Furcht und mit ihr eine Wut, die sich auf einen winzigen Aspekt scheinbarer Mitmenschlichkeit fokussierte. Dabei hat Merkel im Sommer nur nüchtern reagiert, als sie feststellte, dass die Regeln nicht mehr funktionieren konnten.

Das Kanzleramt gab einen an sich unspektakulären Hinweis an das BAMF heraus, in dem stand, die Dublin-Regeln mit Blick auf Bürgerkriegsflüchtlinge nicht mehr anzuwenden. Ein bürokratischer Akt, der eine Selbstverständlichkeit unterstreicht, angesichts des zu erwartenden Zustroms an Menschen, die man mit Grenzen oder Waffen eben nicht hätte aufhalten können. Flüchtlinge haben Rechte, die aber offenbar ein Teil der Politik und der Bevölkerung hierzulande nur als Gnade verstanden wissen wollen, so Schramm treffend.

Und so wurde das Vorgehen der Kanzlerin zum Sündenfall aufgebauscht, auch weil Länder wie Österreich und Ungarn wider besseres Wissen vorgaben, die Flüchtlingsströme im Rahmen bestehender Regeln aufhalten oder kontrollieren zu können. Dankbar nahmen sie die Vorlage Merkels auf, empörten sich künstlich und machten sie kurzerhand zur Auslöserin der ganzen Tragödie. Warum? Um vor den eigenen Leuten gut dazustehen. Doch mal angenommen, den Hinweis an das BAMF hätte es nicht gegeben. Wäre die Bewegung der Menschen tatsächlich zu verhindern gewesen?

Rückblick: Am 7. Mai meldet Bundesinnenminister Thomas de Maizière, dass 450.000 Flüchtlinge in Deutschland erwartet würden. Am 19. August korrigierte er die Zahl auf 800.000. Das war alles vor der kolportierten Einladung Merkels.

Es ist wie Georg Schramm in seiner Rolle als Oberstleutnant Sanftleben sagt: Es werden die falschen Fragen diskutiert. In den Maghreb-Staaten stellen die jungen Menschen die Mehrheit der Bevölkerung. Sie, wie auch die Jugend in Südeuropa haben keine Perspektiven mehr, aus Gründen, die hierzulande kaum jemanden empören. Den einen wird durch internationale Großkonzerne das Land geraubt und den anderen wird klar gemacht, dass eine Troika mehr zu sagen hat als die demokratisch gewählte Regierung.

Bevor sich der besorgte Bürger über die Flüchtlingswelle echauffierte, hat er zu einer Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 60 Prozent im Süden laut geschwiegen. Nein: Er hat sogar Beifall geklatscht, wenn Finanzminister Schäuble oder Kanzlerin Merkel das nächste Sparpaket schnürten, um es der faulen Bevölkerung da unten, die über ihre eigenen Verhältnisse lebte und weiterhin auf unsere Kosten leben wolle, mal ordentlich zu zeigen.

Das entscheidende Datum 2015 war eben nicht der 5. September als Merkel, Orbán und Faymann am Telefon entschieden, die Flüchtlinge per Zug nach Deutschland reisen zu lassen. Das entscheidende Datum war auch nicht der 25. August, als das BAMF über Twitter betätigte: „#Dublin-Verfahren syrischer Staatsangehöriger werden zum gegenwärtigen Zeitpunkt von uns weitestgehend faktisch nicht weiter verfolgt.“ Das entscheidende Datum war der 13. Juli, als Merkel und Schäuble Griechenland mit dem Grexit ganz offen erpressten.

Dieser Vorgang hatte Signalwirkung und machte allen Europäern unmissverständlich klar, dass die Zukunft Europas weder etwas mit Solidarität, noch mit gleichrangiger Partnerschaft und auch nichts mit Verträgen zu tun hat, sondern einzig und allein auf dem Recht des Stärkeren basiert. „Es ist Payback-Time in Brüssel“, bilanzierte Martin Schulz im November. Und er behält bis heute Recht. Denn Merkel scheitert Woche für Woche daran, eine Verteilung der Flüchtlinge zu organisieren. Das liegt aber nicht an einer falschen Einladung, die zur Überforderung führte, sondern an dem Fehler, an Griechenland unbedingt ein Exempel statuieren zu müssen.

Was bleibt, ist der unverstandene Krieg arm gegen reich. Er verschwindet hinter einer Art der undurchdachten Stimmungsmacherei. So werden diejenigen, die sich von einer Flüchtlingswelle akut bedroht fühlen, es vermutlich auch hinnehmen, wenn beispielsweise die Regelungen zum Mindestlohn wieder aufgeweicht und reichere Bevölkerungsschichten weiterhin geschont werden, wenn notwendige Investitionen in die Infrastruktur unterbleiben und das Anbeten von Schuldenbremse und Schwarzer Null wieder zum alltäglichen Ritual gehört. Heinrich Heine bleibt daher aktuell…

Weltlauf

Hat man viel, so wird man bald
Noch viel mehr dazubekommen.
Wer nur wenig hat, dem wird
Auch das wenige genommen.

Wenn du aber gar nichts hast,
Ach, so lasse dich begraben –
Denn ein Recht zum Leben, Lump,
Haben nur, die etwas haben.

Heinrich Heine, 1851

4

Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
  Verwandte Beiträge

Kommentare

  1. Argonautiker  Februar 17, 2016

    Die Ursache liegt auch nicht in den von Ihnen und Schramm genannten Zeiten und Verhaltensweisen, sondern darin, daß Europa es der Politik Washingtons nachgetan haben, und versucht haben sich am Destabilisieren anderer Länder haben bereichern wollen. Und das ist sehr wohl Federführend für Europa durch Merkel geschehen. Man hat Waffen über Saudi Arabien in diese Gebiete geliefert und dadurch normale Zwistigkeiten so befeuert, daß das Land so unbewohnbar gemacht wurde, daß die Leute flohen. Man wollte Assad unbedingt weg haben, damit die geplanten Pipelines von Katar nach Europa eine Konkurrenz zu Rußland geschaffen hätten, was nun auch der Einzige Grund für Rußland ist, dort einzuschreiten.

    Aber natürlich stimmen ihre Beschreibungen bezüglich des Zwangs auf Griechenland auch, nur waren sie nicht Ursache für die Flüchtlinge. Und die wirkliche Welle hat sehr wohl erst dann eingesetzt, als Merkel die „Einladung“ aussprach.

    Beste Grüße

    • André Tautenhahn  Februar 17, 2016

      „Aber natürlich stimmen ihre Beschreibungen bezüglich des Zwangs auf Griechenland auch, nur waren sie nicht Ursache für die Flüchtlinge. Und die wirkliche Welle hat sehr wohl erst dann eingesetzt, als Merkel die „Einladung“ aussprach.“

      Ich würde nicht vom „Einsetzen einer wirklichen Welle“ sprechen, weil das wiederum unterstellt, die Menschen hätten sich vorher gar nicht bewegt oder erst dann als Merkel eine Einladung aussprach. Denn wie sie richtig schreiben, spielen die vom Westen aus geschürten Konflikte ebenso eine wichtige Rolle. Die Menschen waren seit Langem unterwegs und sind immer noch auf der Flucht.

      Die Entscheidung Merkels, die, wie ich noch einmal betonen will, auf einer Absprache dreier Regierungschefs beruhte und des anschwellenden Flüchtlingsstroms auf dem Balkan geschuldet war, hat eine Beschleunigung ausgelöst. Das ist richtig. Die Menschen konnten ungehindert in Zügen weiter reisen.

      Gleichzeitig hat Merkel immer davon gesprochen, eine europäische Verteilung organisieren zu wollen. Dazu gab es auch einen EU-Gipfel im September, bei dem alle zustimmten, Griechenland und Italien zu entlasten. 160.000 Menschen sollten auf die übrigen europäischen Länder verteilt werden. Bis zum Ende des Jahres hat das in weniger als 200 Fällen geklappt.

      Es kann aus meiner Sicht sehr gut sein, dass den europäischen Partnern die Geschichte um Merkels Einladung ebenso gut in den Kram passt, wie CDU, CSU, AfD und Pegida hierzulande. Man braucht nur ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben und so zu tun, als hätte es ohne ihre Entscheidung gar keine Flüchtlingswelle gegeben, was einfach nicht stimmt. Den potentiellen Wählern gefällt das aber.

      Die aufgebauschte Story von der Einladung erfüllt daher einen sehr guten Zweck. Diejenigen, die sie benutzen, müssen ihren Wählern oder Zuhörern nicht erklären, wie sie mit Menschen umgehen, die ja tatsächlich auf der Flucht sind. Sie können, wie die CSU in Bayern, mit einem Gutachten eines ehem. Verfassungsrichters einfach fordern, einen Zustand wiederherzustellen, wie er vor dem Sommer 2015 bestand.

      Über diesen Zustand, der ja dann wohl nicht von einer „Herrschaft des Unrechts“ geprägt war, hat der Papst im November 2014 vor dem Europaparlament in Straßburg übrigens gesagt: „Es ist nicht hinnehmbar, dass das Mittelmeer zu einem Massengrab wird.“ Warum sollte das Oberhaupt der katholischen Kirche so etwas sagen, wenn es doch gar keine Flüchtlingswellen gab?

      • Argonautiker  Februar 17, 2016

        Das die Menschen auch vorher auf der Flucht waren stimmt, aber eben auch nur zum Teil. Viele von denen waren eben schon in Flüchtlingslagern, und sind dann erst los, als die Sanktionen sich sogar auch auf die Flüchtlingslager ausdehnten und keine Gelder mehr dort hinflossen. Raten Sie mal wer dazu die Zustimmung hat geben müssen?

        Nein da kommen wir nicht überein, Frau Merkel hat die Politik der USA imitiert, hat Drittländer destabilisiert um ihre Interessen durchzusetzen, inkaufnehmend, daß sie deren Existenzen zerstört, und hat sich denen, deren Existenzen sie zerstört hat, dann als gute Mutti verkauft, die sie mit offenen Armen empfängt. Das ist mit Verlaub gesagt an Widerlichkeit nicht mehr zu überbieten.

        Als es dann eskalierte, ist sie von den USA allein gelassen worden. Und nun auch von allen Anderen. Zu recht. Wer Menschen wie Waren behandelt, hat sich kein Regierungsmandat verdient. Wo ich Ihnen wieder zustimme, ist, daß sie damit nicht alleine stand, wohl aber an der Spitze der Befürworter dieser Vorgehensweise.

        Sie hat sich eine Rolle angezogen, die sie einfach nicht ausfüllen konnte, und bekommt nun die Rechnung. Daß ihr kommender Sturz es leider nicht besser machen wird, steht auf einem anderen Blatt. Wahrscheinlich auf dem Blatt, auf dem steht, daß es wohl Leute gibt, denen es recht ist, wenn Europa destabilisiert wird. Das sieht schon sehr geplant aus.

        Es ging auch gar nicht so sehr um die Entscheidung Flüchtlinge aufzunehmen oder nicht, sondern um die Ganze Art der Vorgehensweise. Man hätte im Zeitalter des Internets einen Aufruf machen können, daß sich jeder meldet, der in Europa bereit ist Flüchtlinge aufzunehmen. Es gab ja viele die das gerne wollten. Dadurch hätte sich genau die Kapazität Europas ergeben. Dann hätte man von den Europäischen Außengrenzen eine kontrollierte Verteilung zu diesen Menschen einleiten können, wodurch klar gewesen wäre, wer im Land ist, wo er ist, und es hätte eine Basis zur Integration gegeben, und vor allen Dingen hätte sich schnell gezeigt, ob darunter auch Verbrecher oder eben Leute von ISIS selbst sind.

        Wenn in ihrer Nachbarschaft ein Krieg ist, würden Sie dann die Türen zu ihrem Haus für Jedermann einfach offen lassen? Ich nicht. Und zwar egal, ob das Schutzrecht nun einem übergeordneten Staat wie Europa zukommt, oder nicht.

        Einfach Grenzen auf und von oben herab entscheiden, war, auch wenn sie das nicht alleine getan hat, ein Diktat, wie so vieles auf einmal ein Zwang, ein Diktat ist. Sie hat quasi ständig darauf gepocht, daß die Grenzen an den Europäischen Außengrenzen gesichert werden und nicht National jeder für sich, vollkommen ignorierend, daß sie sich damit in deren Nationale Angelegenheiten einmischt, ohne dabei jegliche Hilfeleistung Europas anzubieten. Hatte sie dazu Befugnis? Ist sie gewähltes europäisches Oberhaupt?

        Gibt es überhaupt einen Europäischen Grenzschutz, eine Europäische Armee,… Nein gibt es nicht. Wie bitteschön sollen denn die Grenzen europäisch geschützt werden, wenn es diese europäischen Schutzmechanismen gar nicht gibt, sondern nur die Nationalen? Und wer bitteschön hat es denn versäumt diese zu schaffen? Jeder dümmste Bauer weiß, daß er erst mal einen Stall und eine abgegrenzte Weide braucht, bevor er sich Vieh anschafft, und wenn er das nicht hat, er damit ein riesiges Chaos hervorruft wenn er es doch tut. Und dieses Prinzip gilt auch für Menschen.

        Die Regierenden scheren sich derzeit einen Scheiß um Wirklichkeit, Recht und Gesetz, und Merkel ist/war die Anführerin dieser fanatischen Bande. Wer sich ständig in alternativlosen Situationen befindet, hat die Wahl verloren. Jemand der keine Wahl mehr hat, ist entweder im Tunnelblick des Wahns, oder steht unter einem äußeren Diktat.

        • André Tautenhahn  Februar 17, 2016

          Ich stimme ihnen zu. Das Problem ist die neoliberale Austeritätspolitik und die rücksichtslose Umsetzung wie zuletzt in Griechenland geschehen. Darauf sollte sich die Diskussion auch konzentrieren und nicht auf vermeintliche oder offensichtliche Einladungen, die, wenn sie nicht ausgesprochen worden wären, das Flüchtlingsdrama hätten verhindern können.

          Die neoliberale Politik muss sich ändern. Das wollen aber AfD, Union sowie SPD und Grüne gerade nicht.