Am Ende einer Woche voller Enthemmung bildet der aktuelle Focus-Titel den vorerst krönenden Abschluss. Ist eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema Köln überhaupt noch möglich? Wer die Übertreibungen benennt und die rassistischen Äußerungen in den sozialen Netzwerken kritisiert, gilt inzwischen als einer, der die Vorfälle in Köln und anderswo an Silvester nur verharmlosen oder herunterspielen möchte. Er gilt als ein linker Gutmensch, der sich schützend vor kriminelle Ausländer stellt und nicht erkennt, wie groß die Gefahr doch ist. Mit Verlaub: Ihr habt eine Meise.
Stigmatisierung ist das Ziel
Ziel der allgemeinen Besorgniswelle ist ganz klar eine Stigmatisierung. Inzwischen wird ernsthaft darüber diskutiert, ob es nicht doch einen Zusammenhang zwischen Herkunft oder genauer dem Islam und sexualisierter Gewalt gibt. Das Stichwort: patriarchale Gesellschaft. Dabei gilt das, was schon immer galt: Testosteron kennt keine Religion oder Nationalität. Die Besorgten tun nun aber die ganze Woche über so, als seien Seximus und Antisemitismus erst mit den Flüchtlingen ins Land gekommen. Der deutsche Mann ist dann wohl geradezu ein Vorbild an Zivilisiertheit, der sogar noch im Suff die Contenance bewahrt . Dumm nur, dass auch einige Landsleute verdächtigt werden, Straftaten in jener Nacht auf dem Bahnhof in Köln begangenen zu haben.
Das interessiert aber keinen, da ja endlich bestätigt wurde, dass auch viele Asylbewerber zum mutmaßlichen Täterkreis gehören, die Ortung der geklauten Handys in die Nähe von Flüchtlingsheimen führt und sogar ein gelber Übersetzungszettel aufgetaucht ist. Das sind ja wohl unwiderlegbare Beweise für die These, dass Ausländer immer nur Probleme machen, Frauen nicht achten und somit nicht integrierbar sind. Dabei hat wohl in Köln gelungene Integration stattgefunden. Denn sehr viele männliche Arschlöcher haben sich zu einer Art Multikulti-Arschloch-Truppe zusammengetan, um einer uralten männlichen Tradition nachzugehen.
Gewalt gegen Frauen gehört zum Alltag
Gewalt gegen Frauen gehört gerade in Deutschland zum Alltag, vor allem in den Familien selbst, aber auch an öffentlichen Plätzen. Das interessierte bisher nur keinen, weil es nicht um arabisch aussehende Männer als Täter ging, denen man ein Triebgen andichten kann. Jetzt werden sogar die Vorfälle auf dem Tahrir-Platz für die Beweisführung bemüht, das naheliegende aber schlicht ignoriert.
- 35% der deutschen Frauen haben körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch eine/n Partner/in oder einer anderen Person seit ihrem 15. Lebensjahr erfahren.
- 20% haben körperliche Gewalt durch eine/n Partner/in erlebt.
- 8% haben sexuelle Gewalt durch eine/n Partner/in erlebt, 7% durch eine andere Person als den/die Partner/in.
- 50% haben eine Form der psychologischen Gewalt durch eine/n aktuelle/n oder frühere/n Partner/in erlebt.
- 44% haben körperliche, sexuelle oder psychologische Gewalt vor ihrem 15. Lebensjahr durch eine/n erwachsene/ Täter/in erlebt, 13% haben sexuelle Gewalt erlebt.
- 24% haben Stalking seit ihrem 15. Lebensjahr erfahren.
- 60% der Frauen haben mindestens eine Form der sexuellen Belästigung erfahren.
- 11% der Frauen meldeten den schwerwiegendsten Vorfall von Gewalt in Partnerschaft und 13% durch andere Personen als den Partner/die Partnerin der Polizei.
Quelle: Frauen gegen Gewalt e.V.
Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich über dem Durchschnitt, auch ohne die angeblich notgeilen Migranten aus dem arabischen Raum.
Aber es stimmt, die Kriminalität von Ausländern nimmt zu. Allerdings steigt die Kriminalität gegen Ausländer oder Flüchtlingsunterkünfte noch sehr viel stärker. Die Anzahl fremdenfeindlich motivierter Angriffe auf Schutzsuchende ist seit 2010 um das Vierzigfache gestiegen − 2015 wurden rund 820 Vorfälle dokumentiert. Das wird dann wohl mit dem präventiven Selbstverteidigungsrecht der Ureinwohner begründet. Wir waren schließlich zuerst hier. Fakt ist aber, ein Teil der Migranten macht Probleme, ein Teil der Deutschen macht Probleme. Was aber bleibt, ist eine Welle rassistischer Äußerungen bis hin zur absurden Cover-Gestaltung eines Möchtegern-Nachrichtenmagazins.
Am Frieden nicht interessiert
Enthemmte Reaktionen, die auf enthemmte Taten folgen. Wie erwachsen. Auf der anderen Seite wird es weiterhin achselzuckend hingenommen, dass in Deutschland in den letzten 20 Jahren über 100 Menschen auf offener Straße von Nazis und offenbar auch mit Wissen staatlicher Behörden ermordet wurden. Viel wichtiger ist also die Frage, was machen wir bloß mit der zunehmenden Zahl an Intelligenzflüchtlingen? Sind die überhaupt an einer friedlichen Gesellschaft interessiert oder nur an einer Bestätigung ihrer eigenen rassistischen Vorurteile, die sie dann über Facebook teilen können?
Frieden, das ist ein gutes Stichwort. Seit dieser Woche unterstützt Deutschland offiziell den Krieg in und über Syrien und hilft dabei, die Fluchtursachen mit Tornados zu bekämpfen. Keine enthemmte Empörungswelle weit und breit. Dabei zerstört der Westen in regelmäßigen Abständen die Lebensgrundlage von Menschen anderer Länder, um nach eigenen Angaben humanitäre Katastrophen zu verhindern, demokratische Strukturen zu fördern, Brunnen zu bohren oder den Terrorismus einzudämmen. Seit Jahren geht das so mit der sicheren Erkenntnis, dass dadurch alles nur noch schlimmer wird und die Flüchtlingszahlen steigen.
Empörung? Fehlanzeige. Genau wie bei den zum Alltag gehörenden Übergriffen auf Frauen. Aber wenn der Araber deutsche Frauen vergewaltigt, kocht die Volksseele über. Das Stereotyp feiert seine Rückkehr. Und die Massen folgen ihm, weil es so einfache Erklärungsmuster bietet. Dass es in arabischen Kulturkreisen Menschen gibt, die gegen den Sexismus ankämpfen, wird genauso ignoriert, wie die Tatsache, dass in Deutschland die Abschaffung der Straffreiheit bei Vergewaltigung in der Ehe erst gegen Ende der Neunziger Jahre gelang.
JAN
Über den Autor:
André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.