Replik: Die unfassbare Ignoranz des Chefkommentators

Geschrieben von: am 08. Dez 2015 um 15:36

Eine Replik zum Artikel: „Die unfassbare Ignoranz der Terrorversteher“ auf Welt Online vom 4. Dezember 2015.

Dieser Artikel von Chefkommentator Torsten Krauel steht ganz oben auf der Liste zur Wahl des unterirdischsten Medienbeitrags des Jahres. Schon klar, dass so etwas jenen Claqueuren gefällt, die sonst pauschal über die „Lügenpresse“ schimpfen. Wenn es aber ins Weltbild passt, nimmt man die echten von Ideologie getriebenen Demagogen unter den Journalisten-Kollegen eben gern beim Wort und stimmt ihnen zu.

Das zeigt eigentlich nur, dass viele Zeitgenossen nicht fähig oder willens sind zu differenzieren. Natürlich wird bei so einem Beitrag ordentlich geklatscht, weil er die Welt ganz einfach strukturiert. Wir sind die Guten und der böse fremde Islam bildet, offenbar genetisch bedingt, verführerische Terrorsekten. Und ganz nebenbei werden die Verbrechen der Nazis noch relativiert. Widerlich.

Der Autor sollte sich zu aller erst mal die simple Fragen stellen, wie viele Terroristen es vor dem Krieg gegen den Terror 2001 gegeben hat und wie viele es heute nach 14 Jahren War on terror mit Guantanamo, Abu-Ghuraib, Drohnenmorden sowie gescheiterten Regime-Change-Versuchen im Irak, Afghanistan, Libyen und Syrien sind.

Gut und Böse

Gleichzeitig bezeichnen wir, die Guten, Saudi-Arabien als unseren Partner, obwohl das Regime dort noch mehr Köpfe mit dem Säbel entfernen lässt als alle Terroristen dieser Welt zusammen. Wir bezeichnen auch Erdogan als unseren Freund, der die Terrorazubis aus den Pariser und Brüsseler Vorstädten munter ein- und ausreisen lässt.

Und was ist bei denen eigentlich schief gelaufen? Was bringt junge französische, belgische und auch deutsche Staatsbürger plötzlich dazu, mit einem Sprengstoffgürtel um den Bauch geschnallt, ins Jenseits abzutreten? Wie viel muss da hier bei uns in wenigen Lebensjahren zerstört worden sein. Und sind da dieselben Mechanismen am Werk, die aus „besorgten Bürgern“ anonyme Brandstifter und Schläger machen?

Was mich an dem Artikel aber am meisten stört, ist das Leugnen von Zusammenhängen. Fehlende Aufklärung eben, die zu dumpfen Parolen und schließlich zur Gewalt führen. Da marschieren die USA 2003 in den Irak ein, schlagen dessen Armee, entlassen die Soldaten und belegen diese mit einem Berufsverbot, wie auch die Anhänger der bis dahin regierenden Baath-Partei. Diese Partei hatte mit Religion nicht viel am Hut, baute ihre Macht auf säkularen Machtstrukturen auf. Das Vorbild war ein Staat sowjetischen Typs, der seine Herrschaft durch den Terror nach innen sicherte.

Was ist der IS? Er ist ein Sammelsurium aus Sunniten und jenen ausgestoßenen ehemaligen Baath-Kadern, die ein schreckliches politisches Handwerk verstehen, erfahren haben, was westliche Sanktionspolitik bedeutet und über schier unerschöpfliche finanzielle Mittel sowie Waffen verfügen, ja sogar Handel im klassischen kapitalistischen Sinne betreiben.

Heimatfront trinkt mehr Glühwein

Darüber wundern wir uns nun. Aber so abwegig das auch klingen mag: Der Islamische Staat sichert das Überleben von Menschen, die durch einen westlichen Feldzug, ganz simpel gesprochen, ihren Job verloren haben und unter dem neuen Regime keinen mehr ausüben dürfen. Beinahe lustig ist, dass diese durchaus intelligenten wie brutalen Zeitgenossen, vor allem junge und zum Selbstmord bereite Idioten in Westeuropa finden, die die Drecksarbeit und die Propaganda für den IS erledigen.

Das spricht nicht gerade für unsere Art zu leben. Statt nach der Tradition der Aufklärung zu handeln und beispielsweise für ordentliche Verhältnisse in den Banlieues zu sorgen, rufen wir lieber Kultur- oder religiöse Weltanschauungskämpfe aus. Weil wir uns bedroht und angegriffen fühlen. Die Islamisten wollen uns den Glühwein verbieten, heißt es empört, weshalb wir jetzt die zum Teil widerlich zusammengepanschte Scheiße gleich literweise in uns hinein schütten. Damit steuert die besoffene Heimatfront ihren Beitrag zum Krieg gegen den Terrorismus bei.

Man will ein Zeichen setzen, ohne zu merken, wie armselig das eigentlich ist. Wir, die sich als Krönung der Schöpfung begreifen und so wenig von der Welt verstehen. Der Terror ist doch kein Ziel, sondern ein Mittel zum Zweck. Der IS will einen Staat errichten und er tut das, wie das auch die bürgerliche Gesellschaft vor über 200 Jahren tat (la Grande Terreur). Die vor den Augen einer Öffentlichkeit veranstalteten Säuberungen sind nun wirklich keine Weltneuheit.

Mit dem Schrecken regieren, das macht auch unser „Freund“ Saudi-Arabien heute noch, ohne dass es einen der westlichen Werteverteidiger sonderlich interessieren würde. Saudi-Arabien ist Partner und nicht Ziel des Antiterrorkampfes. Nahost-Kenner Michael Lüders weist in seinem Buch „Wer den Wind sät“ darauf hin und zeigt dabei auf die überdeutlichen Spuren der westlichen Interventionspolitik, die immer derselben falschen Logik folgt.

Die Frage nach Ursache und Wirkung ist unbequem

Was sind die Interessen der Amerikaner und ihres Hauptverbündeten Saudi-Arabien im aktuellen Syrien-Konflikt? Das ist kein Geheimnis und auch keine Verschwörungstheorie. Sie betreiben offen die Ablösung von Machthaber Assad. Warum? Weil dessen Regierung mit dem großen Gegenspieler der Saudis, dem Iran kooperiert. Ein Sturz Assads würde den Iran schwächen und die Kräfteverhältnisse in der Region verschieben.

Nur warum ist der Iran den Amerikanern eigentlich ein Dorn im Auge? Weil sich hier ein anderer Staat entwickelt hat, als der Westen dachte, nachdem er mit Hilfe von CIA und MI6 den demokratisch gewählten Premierminister Mossadegh 1953 stürzte. Übrigens mit der bis heute üblichen Dämonisierung, dem Hitler-Vergleich: Es war der erste „zweite Hitler“, es folgten mit Nasser, Hussein, Ahmadinedschad und eben Assad noch weitere. Was hatte Mossadegh Böses gemacht. Die Erdölindustrie verstaatlicht.

Das war natürlich Grund genug einzugreifen und einen Regime-Change herbeizuführen (Aus den freigegebenen Akten der CIA: „Kampagne zur Installierung einer pro-westlichen Regierung im Iran“). „Ein Sündenfall“, wie Lüders schreibt. Denn der Westen tauschte eine sich entwickelnde Demokratie gegen die Diktatur des Schahs ein. Der wiederum konnte die antiwestliche Gegenbewegung nicht aufhalten.

Er verlor auch die Unterstützung des Westens. Die Folge war eine Revolution und die islamische Republik, die ebenfalls mit Terror ihrer Legitimität im Innern zu sichern suchte und jede Verhandlungen mit dem Westen in der Folge ablehnte. Ohne den Putsch von 1953 keine Revolution im Jahr 1979. Diese Vorgeschichte und die damit verbundene Schuld des Westens ist wichtig zu begreifen, wenn man verstehen will, was heute in Syrien passiert.

Lüders schreibt in seinem Buch:

Die Vorstellung, dass unterdrückte Völker amerikanische und westliche Politik hassen, ist den meisten Amerikanern und Europäern stets fremd geblieben. Die 404 Tage dauernde Geiselnahme amerikanischer Diplomaten in Teheran, von 1979 bis 1981, erscheint in den USA auch heute noch als der eigentliche Skandal, nicht der Putsch von 1953, der die Lunte entfachte für die Explosion eine Generation später. Die Frage nach Ursache und Wirkung ist unbequem, einfacher erscheint es, den «fanatischen Islam» für die historische Zäsur verantwortlich zu machen, die Khomeini markiert. Parolen wie «Tod Amerika» oder «Tod Israel» erscheinen aus dieser Perspektive als Ausdruck unversöhnlicher Feindschaft, verankert in der Religion, nicht als Quittung für die langjährige Unterstützung der Schah-Diktatur.

Mehr Aufklärung durch Michael Lüders in leicht zu findenden Videos.

 

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. Horst Schulte  Dezember 8, 2015

    Solche Vereinfachungen passen denen, die politische Agitation statt Journalismus betreiben, besser ins Konzept. Ihrem Teil der Verantwortung kommen sie nicht nach.

    Und wie die Leute, die sich solche Einseitigkeiten persönlich längst zu eigen gemacht haben, sehen wir in den Kommentaren zum Artikel von Herrn Krauel.

    Wie muss man sich wohl in diesen Zeiten als Muslim in Deutschland fühlen? Rhetorische Frage.