Unsere Art zu übersehen

Geschrieben von: am 16. Nov 2015 um 8:57

Nichts ist klar, aber die Reflexe funktionieren bis hin zur gedanklichen Mobilmachung. Der französische Präsident spricht von Krieg, der Bundespräsident von einer neuen Art des Krieges und Springer-Chef Döpfner wünscht sich eine Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte. Schwups ist auch eine Diskussion um den NATO-Bündnisfall oder einen Dritten Weltkrieg (Papst) entbrannt. Besonders klug ist das nicht.

Es ist eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Verzweiflung, wenn als Antwort auf einen Terrorakt wieder die militärische Option oder Vergeltung die Lösung sein soll. Die Kampfjets fliegen bereits, obwohl die Bekämpfung des Terrorismus seit fast 15 Jahren ein einziges Desaster ist. Die Forderung nach einer entschlossenen Reaktion ist dennoch zu vernehmen und die Medien stimmen mit großen Lettern in dieses Stimmungsbild mit ein.

Doch es stellen sich auch weiterhin Fragen, die ohne Antwort bleiben. Zum Beispiel, welchen Sinn eine Militärallianz hat, deren Mitglieder jeweils einen anderen Gegner bekämpfen. Statt mit Antworten wird das Publikum mit konzentrierten Salven hohler Phrasen beschossen. So will der Bundespräsident eine neue Art von Krieg erkannt haben, der doch aber schon lange bittere Realität für Menschen im Irak, in Syrien und in Afghanistan ist.

Wenn Hochzeitsgesellschaften, Tanklastzüge und Krankenhäuser aus der Luft von Kampfjets oder Drohnen bombardiert werden und Unschuldige dabei sterben, sind das immer nur bedauerliche Versehen (Kollateralschäden), die kaum noch Empörung hier im Westen auslösen. „Unsere Art zu Leben“ setzt sogar noch einen drauf und verhöhnt die Angehörigen der Opfer mit einer freiwilligen Entschädigungsleistung in Höhe von 5000 US Dollar pro irrtümlich ausgelöschtem Leben.

Es ist doch empörend, wenn wir glauben, dass unsere Art den Terror in fremden Ländern zu bekämpfen zu keinerlei Reaktion oder zu keinerlei Radikalisierung führt. Und dann ist es noch töricht anzunehmen, dass eine Terrorgruppe, die wir und unsere Verbündeten mit reichlich Kriegsmaterial ausstatten, dieses für etwas anderes als Krieg und Terror einsetzt. Die „machtvollen Feinde“, die Bundespräsident Gauck als Angreifer ausgemacht hat, haben wir selbst geschaffen.

Es muss also eine Diskussion darüber stattfinden, was im Westen eigentlich schief läuft. Die Terroristen hätten unsere Art zu leben angegriffen, sagte der Bundespräsident. Doch wer ist uns? Die Terroristen waren Franzosen, die offenbar nicht mit jenem Leben sympathisierten, das Gauck vorschwebt oder ein anderes Leben als ihre Realität kannten. Das soll die Taten nicht entschuldigen, aber dazu anregen, genauer hin zu schauen, was eigentlich Realität und unsere Art zu leben ist.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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