Das Grundgesetz ist nicht links

Geschrieben von: am 27. Jan 2012 um 9:41

In seiner Kolumne “Das Grundgesetz ist links” schreibt Jakob Augstein auf S.P.O.N. über die Verfassungsschutzdebatte und hält den Befürwortern einer Beobachtung der Linkspartei den Spiegel vor. 

“Hermann Gröhe fasste es ganz knapp zusammen: Die Linkspartei sei eine „Gefahr für unsere Demokratie“. Das sagt der Generalsekretär der CDU, die einen Präsidenten stellt, für den die Wahrheit eine disponible Größe ist, eine Kanzlerin, die einem Plagiator die Stange halten wollte, und eine Bundesregierung, der das Parlament seine Rechte vor dem Verfassungsgericht abtrotzen muss.

[…]

Sigmar Gabriel wird vermutlich nur deshalb nicht vom Verfassungsschutz bespitzelt, weil allgemein bekannt ist, dass die SPD ihr eigenes Programm nicht so furchtbar ernst nimmt.”

Das ist fein herausgearbeitet, allerdings ist die Feststellung, das Grundgesetz sei links mal wieder ein Ausdruck verschreckter Scheinbürgerlichkeit (“durchgeknallte Fundis aus den Westgliederungen”). Zu Recht weist Augstein auf zentrale Artikel in Grundgesetz und Landesverfassungen hin, die, wenn man sie ernst nähme, zu anderen als den gegenwärtig vorherrschenden Verhältnissen führen müssten.    

“Das Grundgesetz ist großartig. Es lohnt unbedingt, dieses Gesetz zu schützen. Man sollte es allerdings vorher mal lesen. Artikel 14, Eigentum verpflichtet, oder Artikel 15, Produktionsmittel können vergesellschaftet werden – wer das zur Richtschnur seines politischen Handelns machen wollte, wäre in Deutschland ein Revolutionär. Und damit ein Fall für die Bespitzelung durch den Verfassungsschutz.”

Augstein begeht nun aber den Fehler, die aktuelle gesellschaftspolitische Realität als quasi entwicklungslos zu präsentieren. Nur so ist es ihm möglich, das Grundgesetz als “visionär” und “in Wahrheit viel linker, als es der Bundesinnenminister gerne zugeben würde”, zu bezeichnen. Nur haben die sog. Gründungsväter der Bundesrepublik keine linke Vision vor Augen gehabt, sondern die Konsequenz aus der Katastrophe des 20. Jahrhunderts gezogen.

So wie heute eine breite politische Mehrheit die Beobachtung der Linkspartei für richtig erachtet, weil sie das System (nicht das Grundgesetz) nicht für alternativlos hält, war nach 1945 eine ebenso breite politische Mehrheit davon überzeugt, dass der Kapitalismus gescheitert sei und an dessen Stelle etwas Neues treten müsse.

Viel wichtiger als dem Grundgesetz oder jenen, die es für bahre Münze nehmen, eine linke Gesinnung anzudichten, wäre es doch, jene politischen Kräfte genauer unter die Lupe zu nehmen, die ihre asozialen politischen Vorstellungen  mit dem entleerten Begriff der “Sozialen Marktwirtschaft” bloß tarnen oder auch nicht, wie das Geschwätz von “Neuer Sozialer Marktwirtschaft” (Erfindung der Arbeitgeber, INSM) und einer “Marktkonformen Demokratie” (Erfindung einer Physikerin im Auftrag eines Bankers) beweist.

Wenn sich die etablierten Parteien so gesehen, geschlossen und reaktionär von der Verfassung nach rechts bewegt haben, ist es zwar verständlich, jene, die das kritisieren, als davon links stehend zu bezeichnen. In Wirklichkeit ist diese simplifizierende Sicht der Dinge aber nicht mehr, als ein Ausdruck verzerrter Wahrnehmung und mangelnder Fähigkeit zur Selbstreflexion.

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Über den Autor:

André Tautenhahn (tau), Diplom-Sozialwissenschaftler und Freiberuflicher Journalist. Seit 2015 Teil der NachDenkSeiten-Redaktion (Kürzel: AT) und dort mit anderen Mitarbeitern für die Zusammenstellung der Hinweise des Tages zuständig. Außerdem gehört er zum Redaktionsteam des Oppermann-Verlages in Rodenberg und schreibt für regionale Blätter in Wunstorf, Neustadt am Rübenberge und im Landkreis Schaumburg.
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Kommentare

  1. der-olli  Januar 27, 2012

    „Sigmar Gabriel wird vermutlich nur deshalb nicht vom Verfassungsschutz bespitzelt, weil allgemein bekannt ist, dass die SPD ihr eigenes Programm nicht so furchtbar ernst nimmt.“
    Deswegen http://www.koufogiorgos.de/images/250112_gabrielfarbe.jpg halt.

  2. Arnold  Januar 27, 2012

    Es ist zwar richtig, dass man das dem Grundgesetz absolut gesehen keine politische Richtung zuordnen kann. Ich würde Herrn Augstein für diese Formulierung aber auch nicht tadeln. Der Zweck des Artikels ist es doch, zunächst Leser mitzunehmen, die heute leben und sich zum größten Teil über den „Rechtsruck“, den die Parteien als Ganzes durchgemacht haben nicht bewusst sind. Diese Leser gehen zum größten Teil davon aus, dass die Mitte da ist wo SPD und CDU derzeit stehen. Ich glaube es würde die meisten überfordern, wenn man den Leuten innerhalb eines kurzen Artikels erklären wollte, dass das nicht stimmt. Die Quintessenz, dass das Grundgesetz eigentlich etwa da steht wo die Linkspartei steht bekommt man sehr viel einfacher ans Volk wenn man sie da abholt wo sie stehen und sagt das Grundgesetzt ist links (… von dem was Ihr für die Mitte haltet)

    • adtstar  Januar 27, 2012

      Ein Tadel soll das auch nicht sein, sondern eine Kritik. Augsteins Einschätzungen sind auch nicht immer brauchbar. Die alberne Unterscheidung zwischen Ost-Realos und durchgeknallten West-Fundis beweist das mal wieder. So reden auch die Konservativen daher, um die Überwachung der Linken zu rechtfertigen.